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Pornografie in der Moderne

Svenja Flaßpöhler will wissen, "inwiefern das Subjekt der Moderne eine zutiefst existenzielle Verbindung zur Pornografie unterhält". Ihre Erkenntnisse fasst sie in "Der Wille zur Lust" zusammen.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 29.10.2007
    Die Welt wird immer pornografischer. Genauer: In der Welt breitet sich in erschreckenden Ausmaßen Pornografie aus. Was heißt das? Immer häufiger sagt jemand immer nur das Eine. Wiewohl sich die westliche Welt in der Tat zunehmend sexualisiert, sagen beruhigenderweise Kunst, Kino, Popmusik oder Werbung auch noch etwas anderes. Trotzdem: Allein in einem Vorort von Los Angeles drehen über 300 Produktionsfirmen mit zirka 1500 Darstellern pro Jahr etwa 10.000 Pornofilme, die meisten sogenannte Gonzofilme, die zugunsten unablässiger Sexszenen auf Handlung verzichten. Die Pornoindustrie verdient im Jahr zirka fünf Milliarden Dollar.

    Weder solche Fakten, noch die Problematik der Ausbeutung und Entwürdigung von Frauen motiviert Svenja Flaßpöhler zu ihrem Buch. Stattdessen bekundet sie:

    "Ich möchte wissen, inwiefern das Subjekt der Moderne eine zutiefst existenzielle (das heißt die Grundstruktur des Subjekts betreffende) Verbindung zur Pornographie unterhält."

    Ist das nicht eine etwas absurde Fragestellung trotz der Ausbreitung der Pornografie? Gab es in früheren Jahrhunderten keine Pornografie? Stützt sich zudem das moderne Subjekt nicht eher auf Wissen und Macht, während Pornografie ein Hobby darstellt?

    Freilich findet man Pornografie schon vor 1800, das Datum, an dem für Michel Foucault die Moderne anhebt, mit dem sich Flaßpöhler intensiv auseinandersetzt. Doch in der Antike beispielsweise waren pornografische Darstellungen zumeist mit kultischen Zwecken verbunden, sagten nicht nur das Eine. Vormoderne Pornografien verzichten zudem auf explizite Darstellungen der diversen Sexualpraktiken.

    Erst Marquis Sade, der 1814 in der Irrenanstalt von Charenton stirbt, konzentriert sich in einigen seiner Schriften ausschließlich auf das Eine und antizipiert damit die heutige Pornografie. Denn er gibt dabei programmatisch den Sinn der Pornografie vor. Seinen so berühmten wie unendlich langen Text "Hundertzwanzig Tage von Sodom" leitet er ein mit den Worten:

    "Viele Verirrungen, die du geschildert sehen wirst, werden dir ohne Zweifel missfallen, man weiß es, aber es werden sich auch einige finden, die dich derart entzücken werden, dass es dir den Samen kosten wird, und das ist alles, was wir wollen."

    Der Pornografie geht es also mit ihren direkten Darstellungen um die sexuelle Stimulation des Rezipienten und um nicht viel mehr. Inwiefern aber entspringt daraus das moderne Subjekt? Nun, Michel Foucault schreibt im ersten Band von "Sexualität und Wahrheit" unter dem Titel "Der Wille zum Wissen" die ähnlich programmatischen Worte:

    "Der Sex: Grund für alles."

    Vor der Aufklärung war Gott der Grund der Welt wie des Menschen, ergab somit auch dessen Wahrheit. Nachdem sich die Aufklärung in der französischen Revolution durchsetzte, tritt der Mensch an Gottes Stelle, sieht sich aber nun auf sich selbst zurückgeworfen. Was treibt ihn dann letztlich an? Svenja Flaßpöhler konstatiert:

    "Wenn vormals Gott die menschliche Existenz bis in die letzten Ritzen durchdrungen und bestimmt hat, dann ist es von nun der Sex."

    Entbirgt sich derart in der Pornografie etwa die Wahrheit des Menschen? Das sieht Michel Foucault allerdings anders. Er erweitert Sexualität zu einem Diskurs, also zu einem Wissen um Sexualität und um Praktiken, die Sexualität disziplinieren und formen. Dadurch gewinnt der Diskurs über Sexualität eine Macht, die nach Foucault nicht nur negativ kontrollierend, sondern auch produktiv gestaltend dazu beiträgt, das moderne Subjekt zu konstituieren. Doch, das übersehen nach Svenja Flaßpöhler Foucault und seine Anhänger, derart entspringt das Subjekt nur indirekt der Sexualität, nämlich primär dem Wissen darum, nicht aber unmittelbar der Erregung. Diese aber blendet Foucault zusammen mit der Pornografie aus, kümmert sich nicht um diese vermeintlichen Randbereiche der Sexualität. Just dadurch aber misslingt dem späten Foucault, Macht endlich anders als in seinem frühen Werk "Wahnsinn und Gesellschaft" nämlich nur repressiv und ausschließend zu entwerfen. Flaßpöhler schreibt:

    "Foucaults Machttheorie ist keineswegs derart produktiv-dezentralistisch, wie er selbst behauptet. Vielmehr muss die Macht als eine produktiv-repressive begriffen werden."

    Diese durchaus plausible Foucault-Kritik beantwortet indes nicht die Frage, inwieweit denn die Pornografie das moderne Subjekt begründet. Entbirgt sich in der Pornografie etwa dessen Wahrheit? Doch Pornografie präsentiert Sexualität nicht, wie sie normalerweise praktiziert wird, sondern konstruiert und irreal als unaufhörliche Potenz und ohne Unterlass. Flaßpöhler bemerkt:

    "In der Pornographie kippen die Körper im Dienste der Erregung notwendig ins Utopische - und genau aufgrund dieses Umkippens konstituiert sich die performative Kraft der Erregung. Genauer: die pornographische Darstellung erregt, weil sie durch einen unüberwindbaren Riss von der Wirklichkeit getrennt ist."

    Fällt die Pornografie damit nicht gerade aus der Wirklichkeit heraus, wenn sie entweder im heutigen Pornofilm klischeehafte Körper und einen maschinellen Sex schildert oder bei de Sade die Sexualität mit der Zerstörungswut und der Grausamkeit verbindet? Nun, obgleich ein Riss die Pornografie von der Realität trennt, umkreist sie diese, wenn de Sade mit der Fiktionalität seiner Schriften die Fantasie des Lesers herausfordert: Die Lust ruft ins Denken oder in den Diskurs. Die hyperreale Abbildlichkeit heutiger Pornofilme lässt dazu indes keinen Raum. Die daraus folgende sexuelle Erregung legt die imaginative Bewegung still. Pornografie heute sediert das Subjekt!

    Aber haben wir das nicht schon gewusst? Flaßpöhler unternimmt diverse Winkelzüge über Hegel, die Angst vor dem Tod oder über die Bilder, die laufen lernten. Es macht Spaß, dem zu folgen, wiewohl diese Quintessenz etwas keusch klingt.


    Svenja Flaßpöhler: Der Wille zur Lust. Pornographie und das moderne Subjekt.
    Campus, Frankfurt/M, New York 2007
    broschiert, 259 Seiten