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Porträt
Die Religion des Gefühls gegen kalte Vernünftigkeit

Mit seinen "Reden über die Religion" wollte der Theologe, Altphilologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher einen Anstoß zu einer Neuorientierung der religionsphilosophischen Debatte geben. Er begeisterte damit die Frühromantiker Schlegel und Novalis, während er Goethe und Schiller "zu christlich" war.

Von Rüdiger Achenbach | 19.03.2015
    Das zeitgenössische Porträt zeigt den evangelischen Theologen und Philosophen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834).
    Das zeitgenössische Porträt zeigt den evangelischen Theologen und Philosophen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834). (picture-alliance/dpa)
    "Die Religion begehrt nicht, das Universum seiner Natur nach zu erklären wie die Metaphysik, sie begehrt nicht, den Menschen fortzubilden und besser zu machen wie die Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln.
    Diese Sätze sind eine schroffe Absage an das herkömmliche Religionsverständnis. Alle ältere Schultheologie hatte das Wesen der Religion aus der Metaphysik abgeleitet. Hier aber heißt es jetzt: Religion hat nichts mit Metaphysik zu tun. Und gerade das aufgeklärte Religionsverständnis hatte die Religion nur noch als Morallehre gelten lassen. Hier aber heißt es jetzt: Religion hat nichts mit Moral zu tun.
    Friedrich Schleiermachers erstes Buch, das im April 1799 erschien, erregte großes Aufsehen in der gebildeten Welt im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Es war eine Kampfschrift. Er hatte ihr den Titel gegeben "Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern". Er wandte sich damit ganz gezielt an die führende Bildungsschicht, die zu großen Teil in der Gefolgschaft Kants Religion nur nach als Pflichtenkatalog einer moralischen Erhabenheit gelten ließ. Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Professor für evangelische Theologie an der Universität Saarbrücken.
    "Der Verfasser der Reden ist sich bewusst, dass der Glaube von Alters her nicht jedermanns Ding gewesen ist und dass von Religion immer nur wenige etwas verstanden haben. Er ist sich ebenfalls dessen bewusst, dass die Gebildeten seiner Zeit ihr irdisches Leben so reich und vielseitig gestaltet haben, dass sie der Ewigkeit nicht mehr bedürfen. Es ist aber auch ein Stück Selbstkritik des geistlichen Standes, wenn Schleiermacher hervorhebt, dass gerade den Priestern nichts abgenommen wird, was die Religion betrifft."
    Gegen eine Verkümmerung der religiösen Anlage
    Während in der Vergangenheit immer wieder versucht wurde, die Symbole und die mythologische Sprache der christlichen Religion mithilfe religionstheoretischer Überlegungen für die jeweilige Zeit entsprechend zu deuten, begegnet Schleiermacher in seiner Zeit der Religion nur als Erziehungsinstrument im Dienste der Obrigkeit. Es wundert ihn daher nicht, dass unter diesen Umständen viele Gebildete mit dem, was Religion eigentlich bedeutet, nichts mehr anzufangen wissen. An einen Freund schreibt er:
    "Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen? Das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?"
    Schleiermacher ist überzeugt, dass dort, wo in der Gesellschaft noch von Religion die Rede ist, in Wirklichkeit keine Religion mehr zu finden sei. Denn längst hat ein selbstzufriedenes Bürgertum seine eigenen Gesellschaftsregeln für ein moralisch anständiges Leben vergöttlicht und an die Stelle der Religion gesetzt. Daher macht Schleiermacher unmissverständlich deutlich, wer die eigentlichen Adressaten seiner Reden sind.
    "Nicht die Zweifler und Spötter, auch nicht die Sittenlosen, sondern die Verständigen und praktischen Menschen, diese sind in dem jetzigen Zustande der Welt das Gegengewicht gegen die Religion."
    Indem die praktisch Denkenden die Religion gegen ihre Moral ausgetauscht haben, haben sie nach Schleiermachers Überzeugung auch dazu beigetragen, dass die vermeintliche Religion zur Ursache von Gewalttaten geworden ist.
    "Worüber denn in der Religion hat man gestritten, Parteien gebildet und Kriege entzündet? Über die Moral und auch über die Metaphysik, und beide gehören nicht in die Religion hinein."
    Für Schleiermacher bildet die Religion, wie er es ausdrückt, "eine eigene Provinz im Gemüt". Sie gehört also ganz selbstverständlich zum Menschen dazu.
    "Der Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder anderen Anlage, und wenn nur sein Sinn nicht gewaltsam unterdrückt wird, so müsste sie sich in jedem unfehlbar auf seine eigene Art entwickeln."
    Aber gerade hier sieht Schleiermacher das Problem in der deutschen Gesellschaft Ende des 18. Jahrhunderts. Ulrich Barth, Professor für evangelische Theologie an der Universität Halle-Wittenberg:
    "Die Ursache der Verkümmerung dieser religiösen Anlage erblickt Schleiermacher vor allem in der Diesseitsorientierung einer zunehmend verflachenden Aufklärung, die über den Tellerrand des Alltags hinausführende Gedanken nicht mehr aufkommen ließ oder als überflüssig abtat."
    Schleiermachers Reden sind eindeutig über weite Teile eine Auseinandersetzung mit Immanuel Kants religionsphilosophischer Schrift "die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft." Darin hatte Kant die Gottesspekulationen aus der theoretischen Vernunft vertrieben und die Sittlichkeit zum religiösen Organ erklärt. Die Moral wird dabei nicht als von Gott gegeben aus der Religion "abgeleitet", sondern die Moral "begründet" die Religion. Und die Moral gibt der Mensch sich durch seine praktische Vernunft selbst. Die gute Tat geschieht nach Kant also um ihrer selbst willen, nicht für eine Belohnung im Diesseits oder im Jenseits.
    Für Schleiermacher ist dies eine kalte Vernünftigkeit, der er ganz bewusst eine Religion des Gefühls entgegensetzt. Denn Religion ist gerade nicht ein Tun, sondern Religion ist Gefühl und Anschauung.
    "Anschauen will sie das Universum, will sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen. Das Universum ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick."
    Das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit
    Schleiermacher hat diese Anschauung des Universums später auch als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit des Menschen vom Universum bezeichnet. Was den Philosophen Hegel dann zu der polemischen Bemerkung veranlasste:
    "Gründet sich die Religion im Menschen nur auf das Gefühl seiner Abhängigkeit, so wäre der Hund der beste Christ, denn dieser lebt vornehmlich in diesem Gefühl."
    Doch Hegel hätte ihn gründlicher lesen sollen, dann hätte er feststellen können, dass Schleiermacher keineswegs die menschliche Freiheit einschränkt. Dazu der Philosoph Rüdiger Safranski:
    "Wenngleich Schleiermacher die Religion als das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit bezeichnet, so leugnet er doch keinesfalls die Freiheit. Das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, richtig verstanden, bezieht sich auf die Verbundenheit mit dem Mysterium der Natur, die eben kein toter Mechanismus ist, von dem wir determiniert sind, sondern ein lebendiges schöpferisches Prinzip, das wir in uns spüren und in der Natur entdecken. Man kann auch sagen: Das Mysterium des Universums spiegelt uns eine eigene Freiheit zurück. Die menschliche Freiheit antwortet auf die unbegreifliche Freiheit des Ganzen. Freiheit ist hier immer verstanden als schöpferisches Prinzip, das über jeden Determinismus hinausweist."
    Für Schleiermacher geht es letztlich auch um eine Teilhabe am Göttlichen, die nicht erst in einem Jenseits nach dem Tod möglich ist. Sondern für ihn gibt es eine Teilhabe am ewigen Leben schon hier und jetzt. Unsterblichkeit ist für ihn nichts anders als "mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick". Rüdiger Safranski:
    "Die Erfahrung des Ewigen im Endlichen, das geräuschlose Verschwinden unseres Daseins im Unermesslichen ist bei Schleiermacher nicht bedrohlich, sondern lustvoll erfahren. Es ist ein Gefühl des liebenden Verschmelzens. Die Dinge des Lebens, auch das Individuum mit seinen Beschränkungen, bleiben wichtig, aber sie relativieren sich vor dem Horizont des Ungeheuren. Sie behalten ihren Ernst, verlieren aber ihre bedrückende Schwere."
    Wenn es gelingt diese jetzt verschüttete, aber angeborene religiöse Anlage wieder freizulegen und den Sinn und Geschmack für das Unendliche zu erfahren, dann ist man - so Schleiermacher - auch nicht mehr denen ausgeliefert, die die Religion unentwegt in Gesetze und Systeme zwängen wollen, mit denen sie den freien Geist einer allverbindenden Liebe verdrängen.
    "Die Systemsucht ist der Sitz der Widersprüche, sie muss streiten und verfolgen.
    Die Anhänger des toten Buchstabens haben die Welt mit Geschrei und Getümmel erfüllt. Ihr habt Recht, die dürftigen Nachbeter zu verachten, die ihre Religion ganz an eine tote Schrift hängen. Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion, ein Denkmal, dass ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist, denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann? Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der, welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte."
    Mit den "Reden über die Religion" wollte Schleiermacher einen Anstoß zu einer Neuorientierung der religionsphilosophischen Debatte geben. Er sicherte deshalb der Religion ihre Eigenständigkeit unabhängig von metaphysischen Spekulationen und bürgerlichem Sittenkodex. Schleiermachers Buch mit den Reden über die Religion wurde im Kreise der Romantiker begeistert aufgenommen. Friedrich Schlegel verfasste sogar ein Sonett auf die Reden. Auch Novalis, der den Ideen Schleiermachers von allen Zeitgenossen am nächsten stand, war tief beeindruckt.
    Zu christlich für Schiller und Goethe
    In Weimar allerdings stieß Schleiermachers Buch auf keine Zustimmung. Friedrich Schiller hatte für die Schlegelei, wie er die Romantiker nannte, und ihre religiöse Schwärmerei, kein Interesse. Er fand daher in Schleiermachers Reden viel Prätention, die ihm auch sonst bei den Romantikern unangenehm auffiel.
    Goethe lobte Schleiermacher zunächst wegen seiner Bildung, doch beim weiteren Lesen verlor auch der Geheimrat, wie er gegenüber Schiller gestand, die Lust an diesem Büchlein, weil es ihm zu christlich war.
    Das sah die kirchliche Obrigkeit allerdings ganz anders. Da Schleiermacher nach dem Vorbild des jüdischen Philosophen Baruch de Spinozas versucht hatte, im Begriff des Universums die Idee der Welt und den Gottesgedanken zu einer Synthese zusammen zu bringen, warfen ihm vor allem die Theologen vor, dass er sich gefährlich dem Pantheismus Spinozas genähert habe. Oberkonsistorialrat und Hofprediger Sack schrieb dem jungen Prediger deshalb entrüstet:
    "Ich kann das Buch, nachdem ich es bedachtsam durchgelesen habe, leider für nichts weiter erkennen, als für eine geistvolle Apologie des Pantheismus.
    Ich gestehe Ihnen ganz freimütig, dass dieses System mit alledem, was für mich bisher Religion gewesen ist, ein Ende zu machen scheint.
    Keine Kunst der Beredsamkeit wird irgendeinen vernünftigen Menschen jemals überzeugen können, dass der Spinozismus und die christliche Religion miteinander bestehen können."
    Der Hofprediger machte auch kein Geheimnis daraus, dass er diese Verirrung Schleiermachers auf den Einfluss von dessen Freundeskreis zurückführte.
    "Den Geschmack, den Sie an Personen von verdächtigen Grundsätzen und Sitten zu finden scheinen, kann ich mit meinen Vorstellungen von dem, was ein Prediger sich und seinen Verhältnissen schuldig ist, nicht vereinen."
    Schleiermacher musste also damit rechnen, dass ihm die Kirchenleitung nun Schwierigkeiten machen würde.