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Porträt einer Ausnahmeexistenz

Martin Kippenbergers Schwester Susanne hat sich lange geweigert, eine Biografie über ihren vor zehn Jahren gestorbenen Bruder zu schreiben. Nun hat sich die Kulturjournalistin überwunden, und sie hat es sich nicht leicht gemacht. Wie jede andere seriöse Biografin auch führte sie Dutzende von Gesprächen und grub Material aus.

Von Ursula März | 20.08.2007
    Er war der bekannteste, grellste, wohl größte Popstar deutscher Kunst nach 1945. Er machte sein Leben zum Gegenstand der Kunst, und er verausgabte es exzessiv an seine künstlerische Existenz. Insofern war er nicht nur moderner Popstar, sondern auch klassischer Pathetiker: ein sich selbst verbrennendes Genie ganz im Sinn deutscher Kulturgeschichte: Martin Kippenberger, geboren 1953 in Essen, gestorben 1997 an Zirrhose, Leberkrebs und Hepatitis, anders gesagt: am ausschweifenden Künstlerleben.

    Ruhe scheint es in Martin Kippenbergers Tagen und Nächten für keine Sekunde gegeben zu haben. Er war bekannt dafür, bis zum Morgengrauen zu trinken, zu feiern, zu lärmen, um schon ein paar Stunden später die Freunde, die er kurz zuvor tyrannisch zum Mitfeiern gezwungen hatte, aus dem Bett und an die Arbeit zu trommeln. Ein Künstlerfürst, der in der Gastwirtschaft Hof hielt, der über Stunden hinweg redete, Geschichten erzählte, Witze riss, die wiederum in die künstlerische Arbeit eingingen. Er war berühmt für seine starkstromartige Produktivität, berüchtigt für diverse Skandale, er war deutlich bis zur Obszönität, selbstdarstellerisch bis zum Exhibitionismus und ein Gruppenmensch, der immer mit Gefolge auftrat, immer im Mittelpunkt stand, um den herum Heerscharen von Freunden, Kumpanen, Mitarbeitern, Ersatz- und Symbolfamilien kreisten. Er schätzte Nudelauflauf als sein Leib- und Magengericht, er schätzte Alltagsmaterialien und Alltagserfahrungen als künstlerisches Reservoir. Kurzum: Martin Kippenbergers Leben war ein Kunstwerk für sich und wurde von Martin Kippenberger auch als solches geführt. "Er war mein großer Bruder." Mit diesem Satz beginnt Susanne Kippenberger ihre umfangreiche, rasante Lebensbeschreibung des Künstlers. Martin Kippenberger hatte vier Schwestern, Susanne Kippenberger war die jüngste der vier, und vier Jahre älter als der berühmte Bruder. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Journalistin im Kulturteil des Berliner "Tagesspiegels". Sie hat eine Fülle glänzender Reportagen und Feuilletons verfasst und nun, ein Jahrzehnt nach dem Tod des berühmten Bruder, ein Buch vorgelegt, das zu schreiben sie sich verständlicherweise lange weigerte.

    Susanne Kippenberger hat es sich nicht einfach gemacht, das heißt, sie hat nicht den Rahm gemeinsamer autobiografischer Anekdoten abgeschöpft, sie lässt sich selbst fast ganz aus dem Spiel, das Wort "Ich" kommt auf den knapp 600 Seiten fast nie vor. Sie schreibt natürlich in der Haltung schwesterlicher Empathie und verteidigt den Bruder gegen die Vielzahl seiner Kritiker und Verächter. Aber erarbeitet ist Susanne Kippenbergers Buch aus der Perspektive einer Biografin, die, wie jede andere seriöse Biografin auch, lange recherchierte, Dutzende von Gesprächen und Interviews führte, Material ausgrub und sammelte. Sie ist der Person, die sie beschreibt, so nah wie wenige andere, aber sie instrumentalisiert diese Nähe in keiner Zeile als Schlüssellochvorteil.

    Martin Kippenberger führte ein hemmungslos öffentliches Leben, und es ist fast ein kleines Wunder, dass es Susanne Kippenberger gelingt, der Reprivatisierung auszuweichen. Sie beschreibt die Bedingungen, Strukturen und Szenerien einer kreativen Ausnahme-Existenz, aber sie reduziert sie nicht in jener erklärenden Familienpsychologie, deren Wissen Geschwister enger als andere Menschen miteinander verbindet. Vielmehr liest sich Susanne Kippenbergers Buch unter anderem auch als Studie der Kulturgeschichte der Bundesrepublik mit Schwerpunkt auf den hedonistischen 80er Jahren, der Epoche des Übergangs vom Glauben an Ideologien zur Feier des Individualismus, die sich in Martin Kippenbergers Erfolg als Kunstguru, Frauenheld und subkulturellem Spaßvogel unübersehbar ausdrückt. Kippenbergers Lebensmotto war Überschwang. Bei der Eröffnung der Ausstellung "Heavy Burschi" 1991 in Köln hielt er vom Tisch herab eine Rede von 150 Minuten Dauer. Solche, ins Qualvolle übergehende Auftritte und Juxveranstaltungen waren das Markenzeichen des Maniacs.

    Susanne Kippenberger zeigt ihn von vielen Seiten, sie zeigt das Feinfühlige des Manischen, das Humane des Grobians, die asketische Arbeitsdisziplin des schweren Trinkers. Sie beschreibt ein Gruppenbild der deutschen Kunstszene, in dem sie selbst irgendwo unsichtbar am Rand und in der Mitte ein rastloser einsamer Held steht, der ihr Bruder war. Sie macht auf indirekte Weise verständlich, warum der Erfolg und Verkaufswert der Kunst Martin Kippenbergers postum größer sind als sie es zu seinen Lebzeiten waren. Kippenberger, darf man vermuten, brachte ein Leben hervor, das seine Werke im Auge des Publikums in den Schatten stellte.


    Susanne Kippenberger: Kippenberger. Der Künstler und seine Familien
    Berlin Verlag, 2007
    575 Seiten, 32,80 Euro