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Postmodernes Pamphlet

In seinem neuen Roman "Sommer des Lebens" entwirft J. M. Coetzee ein Gesellschaftspanorama vom Südafrika der 70er-Jahre – allerdings hinterrücks und auf subtile Art und Weise. Sehr offensichtlich hingegen spielt der Autor mit dem Genre der Biografie und macht sich – nach allen Regeln der literarischen Kunst – darüber lustig.

Von Maike Albath | 11.04.2010
    "Sie erscheinen also Woche um Woche, diese Geschichten aus den Grenzgebieten, Berichte über Morde, gefolgt von vagen Dementis. Er liest die Berichte und fühlt sich beschmutzt. Er ist also zurückgekehrt, um das zu erleben! Doch wo auf der Welt könnte man sich verstecken und sich nicht beschmutzt fühlen? Käme er sich im schneereichen Schweden sauberer vor, wenn er in der Ferne von seinen Volksgenossen und ihren letzten Streichen lesen würde? Wie kann man dem Schmutz entkommen – keine neue Frage. Eine alte hässliche Frage, die nicht verschwinden will, die eine böse, schwärende Wunde hinterlässt. Agenbite of inwit. Gewissensbisse. "Ich sehe, dass die Defence Force wieder mit ihren alten Tricks operiert", bemerkt er zu seinem Vater. "Diesmal in Botswana." Aber sein Vater ist auf der Hut und beißt nicht an. Wenn der Vater die Zeitung zur Hand nimmt, achtet er darauf, dass er gleich die Sportseiten aufblättert und die Politik überspringt – die Politik und die Morde. Sein Vater hat für den Kontinent, der sich nach Norden erstreckt, nichts als Verachtung übrig. Buffoons, Blödmänner, ist der Ausdruck, den er gebraucht, um die Führer afrikanischer Staaten abzutun: kleine Tyrannen, die kaum ihre eigenen Namen buchstabieren können, die sich in ihren Rolls-Royce von einem Festmahl zum anderen fahren lassen, gekleidet in ruritanische Uniformen, behängt mit selbst verliehenen Orden. Afrika: ein Ort, wo hungernde Menschenmassen von gemeingefährlichen Blödmännern herumkommandiert werden."

    Gleich zu Beginn von "Sommer des Lebens" wartet Coetzee mit dieser Geschichte auf. Südafrika tritt uns als ein Ort der Verheerungen entgegen, ein Ort des Unfriedens, der Armut, Herrschaftsgebiet einer weißen Minderheit mit reaktionären und rassistischen Überzeugungen.

    "Notizbücher 1972 bis 1975" steht über dem ersten Kapitel, und in der Tat scheint es sich um Gedanken, Ideen und Szenen aus dem Alltag eines jungen Mannes zu handeln, der mit seinem Vater in einem bescheidenen Haus in Kapstadt lebt. In den Notizen geht es nicht nur um die angespannte politische Lage, sondern auch um das mühselige Unterfangen, das einfache Wohnhaus aus Lehmsteinen durch Betonplatten neu zu isolieren und so die Feuchtigkeit zu vermindern. Aber der Held ist ein Intellektueller und kaum an handwerkliche Arbeit gewöhnt: Er verschätzt sich mit der Menge der notwendigen Materialien, stellt falsche Berechnungen an und bemerkt, dass er viel länger als geplant brauchen wird. Normalerweise würde man für derartige Aufgaben einen schwarzen Maurer engagieren. Es selbst in die Hand zu nehmen, ist also auch der Versuch, sich gegen die üblichen gesellschaftlichen Gepflogenheiten zu wehren.

    Dennoch liegt eine Atmosphäre von Aussichtslosigkeit über der Sache, die sich später in der sisyphoshaften Farmarbeit anderer Familienmitglieder fortsetzen wird. Aber da sind wir schon mitten drin im Leben von diesem John, der den Namen des Verfassers trägt und zunächst sämtliche Eckdaten mit ihm zu teilen scheint. Die Genrebezeichnung lautet zwar Roman, aber vom Geburtsjahr über den Aufenthalt als Dozent an einer amerikanischen Universität bis zur Ausweisung wegen unerlaubten politischen Engagements und dem Neuanfang in Südafrika, wo er sich mit Unterricht durchschlägt, entsprechen die Erfahrung des Helden denen seines Erfinders.

    John M. Coetzee knüpft mit Sommer des Lebens an seine Bücher "Der Junge" von 1997 und "Die jungen Jahre" von 2002 an, in denen seine Kindheit und seine frühe Berufstätigkeit als Programmierer im Mittelpunkt gestanden hatten, und setzt seine autobiografischen Erkundungen fort. Er tut es auf eine erzähltechnisch entwaffnende Art und Weise, denn schon nach 20 Seiten bricht er mit dem Erzählschema der Notizhefte und lässt einen Biografen namens Mr. Vincent auftreten. Dieser gewissenhafte, belesene Akademiker arbeitet an einem Buch über Coetzee und befragt Zeitzeugen. Coetzee selbst, und das ist der Clou, ist bereits tot. Wir halten also, so suggeriert uns der Autor, eine Art posthumer Materialsammlung in den Händen: Auszüge aus Notizbüchern, Transkriptionen von fünf Gesprächen und schließlich einige Fragmente.

    Mit dieser kühnen Konstruktion etabliert Coetzee ein faszinierendes Wechselspiel zwischen Realität und Fiktion – die Dichtung, ebenso wie die Wahrheit seit jeher Hauptbestandteil der Memoirenliteratur, wird ausgehebelt, weil der Biograf mit vermeintlich verlässlichen Auskunftgebern über Coetzee spricht. Natürlich kommt die Dichtung – Übertreibungen, Verfälschungen, Beschönigungen, kleine Lügen, Widersprüche – durch die Hintertür wieder herein. Die Gesprächspartner sind mitnichten neutrale Beobachter, sondern Beteiligte, und auch sie unterliegen der äußerst menschlichen Gewohnheit, sich ihr Leben zurecht zu legen, wie es ihnen passt – sich selbst mutiger, entschiedener, schöner oder irgendwie besser darzustellen und ihr Gegenüber ebenfalls entweder zu erhöhen oder kleiner zu machen. Von der abwesenden Hauptfigur, die nur in Erinnerungen beschworen wird, scheinen allerdings alle eine eher schlechte Meinung zu haben. Das gilt auch für Julia, eine verheiratete junge Frau mit einer kleinen Tochter, der John in einem Supermarkt über den Weg läuft.

    "Ich möchte Ihnen etwas gestehen. Als Sie sich mit mir in Verbindung gesetzt haben, war ich fast entschlossen, nicht mit Ihnen zu reden. Ich habe gedacht, dass Sie so ein Wichtigtuer sind, ein akademischer Schmock, der auf eine Liste von Johns Frauen, seinen Eroberungen, gestoßen war und nun die Liste abarbeitete, die Namen abhakte und hoffte, ihm ein paar Skandale anzuhängen."

    "Sie haben wohl keine gute Meinung von akademischen Forschern."

    "In der Tat. Und darum habe ich Ihnen klarzumachen versucht, dass ich keine von seinen Eroberungen war. Wenn überhaupt, dann war er eine von meinen. John hatte, was ich einen sexuellen Modus nennen würde, in den er umschaltete, wenn er sich auszog. Im sexuellen Modus konnte er die männliche Rolle völlig angemessen spielen – angemessen, kompetent, aber – für meinen Geschmack – zu unpersönlich. Ich hatte nie das Gefühl, dass er bei mir war, bei mir, wie ich ganz real war. Er wirkte eher, als sei er mit einem erotischen Bild von mir im Kopf beschäftigt; vielleicht sogar mit einem Bild von der Frau als solcher. Damals war ich einfach enttäuscht. Jetzt würde ich noch weiter gehen. Ich denke jetzt bei mir, wie er Liebe betrieb, hatte etwas Autistisches. Ich biete das nicht als Kritik, sondern als Diagnose."

    Julia ist inzwischen Therapeutin von Beruf und erlaubt sich vermutlich auch deshalb übergriffige Interpretationen ihres ehemaligen Liebhabers. Ihre Ehe zerbrach etliche Jahre nach der Affäre, und mittlerweile lebt sie in Ontario. In ihren Schilderungen wirkt John linkisch und unbeholfen. Etwas später beschreibt sie mit scharfen Worten den Männerhaushalt von Vater und Sohn – die Zimmer seien armselig und verwahrlost gewesen. Gleichzeitig erlaubt sie sich, auf die Gastfreundschaft Johns zurückzukommen, als sie Streit mit ihrem Mann hat und zu Hause auszieht. Schon hier offenbart sich die Wirkung von Coetzees erzähltechnischem Kniff: Die Gesprächspartner beliefern den Biografen nicht nur mit Fakten über John, sondern geben genauso viel von sich selbst preis. Julias Wahrnehmungen sind Projektionen. Ihre heftige Reaktion auf die Kargheit ihrer Gastgeber hängt auch mit ihrer verlogenen Ehe, den überzogenen Ansprüchen und der Dekadenz der weißen Mittelschicht insgesamt zusammen.

    Dass sie allein durch ihre Hautfarbe unzählige Privilegien besitzt und unfreiwillig Teil des unterdrückerischen Systems ist, kommt ihr gar nicht in den Sinn. Hinterrücks entwirft Coetzee ein subtiles Gesellschaftspanorama vom Südafrika der 70er-Jahre. Gleichzeitig erlaubt die Interview-Konstruktion einen multiperspektivischen Blick auf den Protagonisten. Wie auf einem futuristischen Gemälde, auf dem zum Beispiel ein Fahrradfahrer in 20 verschiedene Bewegungseinheiten zerfällt, werden auch hier mehrere Bilder von John Coetzee übereinander gelegt. Es gibt Deckungen, Ergänzungen, Wiederholungen.

    Mit zäher Konzentration arbeitet der obskure Mr. Vincent, der durch seinen akademischen Beruf, die präzise Arbeitsweise und die stumme Zurückhaltung etliche Eigenschaften mit seinem Forschungsobjekt teilt, an seinem Projekt. Während der Recherche wird aber deutlich, dass jedes Bild auch aus Erfundenem besteht – denn die Erinnerung ist die erste Stufe der Fiktion. Wer Erinnerungen in Worte fasst, verleiht ihnen Kohärenz, interpretiert sie und schreibt ihnen eine bestimmte Funktion innerhalb der eigenen Lebensgeschichte zu. Nach Julia kommt John Coetzees Cousine Margot zu Wort, enge Gefährtin aus Kindertagen, als beide Familien Farmen in der Kaaro betrieben, einer Wüstengegend sieben Autostunden von Kapstadt entfernt. Sie trifft John kurz nach seiner Rückkehr aus den USA bei einer Familienfeier wieder. Dieses Mal lässt Coetzee den Biografen seiner Gesprächspartnerin einen längeren Text vorlesen, der auf der Grundlage eines Interviews mit ihr entstanden ist. Damit führt uns der Autor erneut ein literarisches Verfahren vor: seine Figur Mr. Vincent eignet sich das Material der Cousine an und wird zu ihrer Stimme. Einerseits illustriert er den vampiristischen Zugriff eines Schriftstellers auf die Wirklichkeit, der sich bedenkenlos aus den privaten Erinnerungen anderer bedient und sie für seine Zwecke umformt. Gleichzeitig entlarvt er Mr. Vincent als einen mäßig zuverlässigen Wissenschaftler, denn auch er verbessert, verschleiert und legt Wert auf effektvolle Zuspitzungen.

    "Das kann ich Sie nicht schreiben lassen. Sie können das nicht über Carol schreiben."

    "Das haben Sie mir erzählt."

    "Ja, aber Sie können nicht jedes Wort aufschreiben, das ich sage, und es in die Welt hinaus posaunen. Dazu habe ich nie meine Einwilligung gegeben. Carol wird nie wieder mit mir reden."

    "Gut, ich streiche es oder mildere es ab, das verspreche ich. Hören Sie mich nur bis zum Schluss an. Kann ich weitermachen?"

    "Bitte."

    "Sie ist verbittert, weil sie sich so viel von John erhofft hat und er sie enttäuscht hat. Was hat sie denn von ihrem Cousin erwartet? Dass er sie von den Coetzee-Männern erlösen würde. Warum wünscht sie sich die Erlösung der Coetzee-Männer? Weil die Coetzee-Männer so slapgat sind. Warum hat sie ihre Hoffnung besonders auf John gesetzt? Weil er von den Coetzee-Männern derjenige war, der die beste Chance hatte. Er hatte die Chance, aber er machte keinen Gebrauch davon. Slapgat ist ein Wort, das sie und ihre Schwester ziemlich um sich werfen, vielleicht weil sie als Kinder hörten, wie damit herumgeworfen wurde. Erst als sie von zu Hause fort ging, bekam sie mit, welche Bestürzung das Wort hervor rief und fing an, es vorsichtiger zu gebrauchen. Ein slap gat: ein Rektum, ein Anus, den man nicht voll beherrscht. Daher slapgat: träge, ohne Rückgrat."

    Weil John nicht in der Lage ist, sein Auto in Schuss zu halten und sich weigert, einen schwarzen Mechaniker zu konsultieren, bleiben Margot und er nach einem Ausflug prompt in der Einöde liegen und müssen die eiskalte Nacht in dem unbequemen Pick-up verbringen. Margot ist verärgert und erkennt in John eine für ihre Familie typische Unfähigkeit, die praktischen Seiten des Lebens in Angriff zu nehmen. Indirekt beschwört der reale John M. Coetzee hier eine der Wurzeln seines Schreibens: die südafrikanische Herkunft und seine Entfremdung davon. Sein Held wird von seinen Verwandten als Sonderling wahrgenommen, sein Afrikaans ist stockend und ungelenk. Margots Schilderungen, die ihre Farm nur mithilfe von Nebenjobs erhalten kann, spiegeln die ausweglose Lage der weißen Mittelschicht.

    Coetzee hat, angefangen von seinem Debüt "Dusklands" von 1974 über "Warten auf die Barbaren" und "Leben und Zeit des Michael K." aus den 80er-Jahren bis zu "Eiserne Zeit" und seinem großen Erfolg "Schande" aus den 90ern, immer wieder über Apartheid, Gewalt und die unfreiwillige Teilhabe der weißen Bevölkerung an einem rassistischen System geschrieben. Mal waren es allegorische Darstellungen gewesen, mal von einem düsteren Realismus durchdrungene Geschichten über Totschlag, Schuld und Vergebung. Im Unterschied zu seiner südafrikanischen Kollegin Nadine Gordimer, ebenso wie er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet und einem traditionellen Realismus verpflichtet, hat sich Coetzee aber nie mit klassischen Erzählmustern begnügt, sondern immer auch experimentell gearbeitet.

    Sein Erstling, in dem er die Mythen der Kolonisation dekonstruiert, gilt sogar als der Auftakt der südafrikanischen Moderne. Zum ersten Mal machte jemand theoretische Überlegungen zum Gegenstand literarischer Texte. Dennoch erzählte Coetzee weiterhin Geschichten, wie er es auch in seinem jüngsten Buch tut. Margot ist ganz verblüfft als sie entdeckt, welche große Rolle sie für den Cousin früher spielte.

    "Dieser Ort zerreißt mir das Herz", sagte John. "Er hat mir das Herz zerrissen, als ich ein Kind war, und ich bin seitdem nie wieder heil geworden." Er hat ein zerrissenes Herz. Sie hatte keine blasse Ahnung davon. Es war einmal, denkt sie bei sich, dass sie, ohne das man es ihr sagte, wusste, was im Herzen anderer Menschen vor sich ging. Ihr eignes, spezielles Talent: meegevoel, Mitgefühl. Aber nun nicht mehr, nun nicht mehr! Sie wurde erwachsen; und als sie erwachsen wurde, wurde sie steif, wie eine Frau, die nie zum Tanzen aufgefordert wird, die ihre Sonntagabende damit zubringt, vergeblich auf einer Bank im Kirchensaal zu warten, die dann, wenn irgendein Mann sich darauf besinnt, was sich gehört, und ihr seine Hand bietet, keinerlei Freude mehr empfindet, sondern nur nach Hause gehen will. Was für ein Schock! Was für eine Offenbarung! Dieser Cousin von ihr bewahrt bei sich Erinnerungen daran, wie er sie geliebt hat! Hat diese Erinnerungen all die Jahre bewahrt!"

    "Habe ich das wirklich gesagt?"

    "Allerdings."

    "Wie indiskret von mir! Egal, machen Sie weiter."

    Die Kommentare stellen nicht nur das Erzählte infrage, sie sind auch ein Appell an den Leser, sich aus dem Material eine eigene Wahrheit zu erschaffen. Coetzees Romane sind ohne Kafka, Beckett und die Postmoderne nicht denkbar. Wie sich Wirklichkeit in Fiktion übersetzen lässt, treibt ihn seit jeher um, und es ist kein Zufall, dass er sich mit der Schriftstellerin Elizabeth Costello, Protagonistin seines gleichnamigen Romans, ein alter ego ausgedacht hat, das Vorträge über die Beschaffenheit literarischer Welten hält. Auf die Spitze getrieben hatte Coetzee dieses Verfahren in "Tagebuch eines schlimmen Jahres" von 2008: Hier schlug sich die avancierte Form sogar auf den Aufbau der Seiten nieder, die in der Vertikale in drei Ebenen unterteilt waren und kurze Essays sowie eine Liebesgeschichte zum Gegenstand hatten.

    Der südafrikanische Autor führt damit die erzählerischen Errungenschaften der Moderne fort und reiht sich ein in eine Linie, die im 20. Jahrhundert von Nabokov über Beckett bis zu Calvino reicht. Er ist ein Virtuose der Intertextualität und arbeitet mit Anspielungen, Zitaten und Persiflagen. Gleichzeitig belässt er es nicht bei einem selbstreflexiven Spiel, sondern stellt sich den großen Fragen der Existenz. In der neuen Pseudobiografie lässt er neben der Cousine und der Ex-Geliebten eine weitere Freundin zu Wort kommen, einen Kollegen von der Universität und schließlich eine brasilianische Tänzerin namens Adriana, die Anfang der 70er-Jahre als politischer Flüchtling in Südafrika strandete. John ist der Englischlehrer von Adrianas jüngerer Tochter, die für den gebildeten Mann schwärmt. Ihre Mutter ist äußerst skeptisch, bittet den Lehrer zum Tee, bezweifelt seine Kompetenz und unterstellt ihm sogar eine verwerfliche Neigung zu dem Mädchen. Statt sich gekränkt zurückzuziehen, beginnt John, ihr den Hof zu machen und kreuzt eines Tages in der Tanzschule auf, in der Adriana unterrichtet.

    "Ich begrüßte ihn nicht. Ich wollte, dass er sofort mitbekam, dass er nicht willkommen war. Was dachte er sich bloß – dass das Eis in meinem Herzen schmelzen würde, wenn er vor mir tanzte? Wie verrückt! Umso verrückter, weil er kein Gefühl fürs Tanzen hatte, kein Talent. Ich erkannte das sofort an der Art, wie er sich bewegte. Er fühlte sich nicht wohl in seinem Körper. Er bewegte sich, als wäre sein Körper ein Pferd, das er ritt, ein Pferd, das seinen Reiter nicht mochte und störrisch war. Nur in Südafrika sind mir solche Männer begegnet, steif, unlenksam, denen man nichts beibringen konnte. Warum waren sie denn überhaupt nach Afrika gekommen, fragte ich mich, dem Geburtsort des Tanzes? Es würde ihnen besser gehen, wenn sie in Holland in ihren Kontoren hinter ihren Deichen geblieben wären und mit kalten Fingern Geld zählen würden."

    Spätestens in diesem Interview von Mr. Vincent wird eine weitere Schlagrichtung von "Sommer des Lebens" deutlich: der reale Coetzee fertigt so etwas wie eine umgekehrte Hagiografie an. Eine starke Diskrepanz zwischen Literatur und Leben blitzt auf: dass jemand große Werke schafft, ist keine Aussage über seine moralische Größe oder die Standhaftigkeit seines Charakters. Bereits "Tagebuch eines schlimmen Jahres" hatte in eine ähnliche Richtung gezielt. Gleichzeitig treibt Coetzee seinen Spott mit dem Genre der Biografie. War mit den Künstlerviten des Italieners Vasari im 16. Jahrhundert die abendländische Individualität markiert worden, scheint sich die Kraft des Individuums erschöpft zu haben. Gnadenlos erforscht Coetzee die Wurzeln literarischen Schreibens. Darin liegt seine Radikalität.

    J. M. Coetzee: "Sommer des Lebens". Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010, 297 Seiten, 19,95 Euro