Mittwoch, 24. April 2024

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Präkolumbianische Fischfallen in Brasilien
Die Armen nutzen die Bauwerke bis heute

Die Küstenregion Maranhão in Brasilien gehört nach Angaben der Weltbank zu den ärmsten Regionen der Welt. Viele Menschen sind hier notgedrungen Selbstversorger wie ihre Vorfahren. Ein Archäologe stellte jetzt fest, dass einige Menschen nicht nur wie ihre Vorfahren leben, sondern immer noch deren Jagdtechnik nutzen.

Von Michael Stang | 11.10.2016
    Manchmal entstehen Forschungsprojekte durch Zufall, sagt André Colonese. Eigentlich wollte der Archäologe von der Universität York nur Muscheln im Nordosten Brasiliens ausgraben, um mehr über die Besiedlungsgeschichte erfahren.
    "Dann kamen zwei Kollegen zu mir und sagten: Andre, willst Du mal etwas Interessantes aus der Archäologie sehen, für das sich bislang niemand wissenschaftlich interessiert hat? Ich bejahte und sie brachten mich zu einer 30 Meter hohen Klippe, von der aus man das Meer sehen kann. Und dann war ich überwältigt, als ich die Bauten entlang der Küste sah."
    Er habe sich gewundert, so André Colonese, denn zuvor hatte er bei Besuchen der Klippe die riesigen Steinkonstruktionen nicht gesehen. Doch jetzt war Ebbe und das Wasser war um acht Meter gesunken. Unter ihm am Strand türmten sich bis zu zwei Meter hohe und zwei Meter breite Mauern auf, die weit ins Wasser ragten und in quadratischen, elliptischen oder runden Gebilden aufgeschichtet waren. Dann erkannte der Archäologe auch den Zweck der Bauten, denn plötzlich tauchten Bewohner der nahegelegenen Dörfer auf.
    "Die Konstruktionen stehen direkt im Küstenbereich und werden bei Flut überschwemmt. Bei Ebbe kann das Wasser nicht ganz ablaufen und die Fische kommen nicht mehr hinaus. Die Leute können sie einfach mit Netzen und Haken fangen, denn die Fische sind wie einem Swimmingpool gefangen."
    Fischfallen mit einer sozialen Komponente
    Die Fischfallen werden durch den starken Tidenhub bedingt zweimal pro Tag gefüllt und versorgen so die Menschen bis heute mit Fisch und Meeresfrüchten. Der Archäologe war fasziniert von der offenbar permanenten Nutzung seit Jahrhunderten. Bislang konnte er die Gebilde nicht datieren. Aufzeichnungen aus dem 17. Jahrhundert belegen jedoch, dass die Steinfallen seit Jahrhunderten in Betrieb sind, einige Hinweise deuten darauf hin, dass sie sogar seit mehr als 2.000 Jahren existieren könnten. In einem ersten Forschungsprojekt hat André Colonese zusammen mit Archäologen, Ökologen und Ethnologen nicht nur die Bauten untersucht, sondern auch Umfragen gemacht, um zu verstehen, wann, wie und von wem die Konstruktionen genutzt wurden und werden. Vor allem die ärmsten Schichten der lokalen Bevölkerung seien auf die Fallen angewiesen. Die Forscher wollten auch herausfinden, wie die Nutzung der Bauten geregelt wird.
    "Die Fallen sind unterschiedlich groß. Eine der Konstruktionen nennen die Leute dort Jedermanns-Mutter, diese ist 150 Meter breit. Da passt also sehr viel Wasser rein. Wir gehen davon aus, dass die Fischfallen daher vor Vornhinein auf eine soziale Komponente hin ausgelegt gebaut wurden, da man sich nur gemeinsam als Gruppe darum kümmern kann. Gut möglich also, dass der Bau damals auch eine identitätsstiftende Maßnahme gewesen war."
    Ein Geschenk der indigenen Menschen
    Die Bauten sind massiv und müssen nur alle paar Jahre ausgebessert werden. Das Baumaterial stammt direkt aus dem Küstengebiet. Dabei handelt es sich nicht um Gestein im engeren Sinne, sondern um eisenoxidreiche Tonschichten, die durch Luftzutritt und Austrocknung verhärtet sind und Petroplinthit genannte Oberflächenkrusten bilden. André Colonese hat seine erste Studie im Frühjahr beendet. Im Oktober erfährt er, ob sein Fördermittelantrag beim Europäischen Forschungsrat bewilligt wird. Denn hier gebe es die einmalige Gelegenheit, die enge Verzahnung von Archäologie mit einem Kulturerbe und dem täglichen Leben der einfachsten Menschen zu untersuchen.
    "Die Fallen unterstehen mittlerweile gesetzlichem Schutz als Kulturerbe. Sie sind damit von Privatbesitz ausgeschlossen und gehören praktisch allen. Denn sie sind ein Geschenk der indigenen Menschen."
    Diese enge Verbindung von Natur und Leben sei im UNESCO-Programm der Nachhaltigkeitsziele erwähnt – nur dass die ärmsten Brasilianer in Maranhão diese seit Jahrhunderten notgedrungen befolgen.