In den beiden ersten Kapiteln umreißt Bourdieu seine Theorie des sozialen Raums und widmet sich kurz dem Beitrag, den das Bildungssystem zur Aufrechterhaltung und Legitimation der Klassenstrukturen moderner Gesellschaften leistet. Diese Ausführungen sind jedoch so skizzenhaft geraten, daß sie alle, die mit Bourdieus Theorie wenig vertraut sind, eher ratlos zurücklassen werden.
Auch das folgende Kapitel enthält wenig Neues. Bourdieu begnügt sich hier im wesentlichen damit, seine Kunstsoziologie zu skizzieren und seine Grundannahrne zu erläutern, daß Kunstwerke nur verstanden werden können, wenn die materiellen und symbolischen Kräfte- und Machtverhältnisse rekonstruiert werden, innerhalb welcher sie erzeugt worden sind.
Sehr viel ergiebiger ist das 4. Kapitel, das die Genese, die innere Logik und die ungeheure Definitionsmacht des modernen Staates behandelt. Auch hierüber hat sich Bourdieu schon früher geäußert, jedoch in Aufsätzen, die schwer zugänglich und größtenteils noch nicht ins Deutsche übersetzt worden sind. Außerdem gehört der "Familiensinn" überschriebene Zusatz zum Erhellendsten, was Bourdieu in den letzten Jahren geschrieben hat. Bourdieu analysiert hier die Institution Familie, ein Gegenstand, den er bisher völlig vernachlässigt hat. Er gelangt zu dem Resultat, daß die Familie ein künstlich erzeugtes soziales Gebilde ist, das ähnlich wie eine vorkapitalistische Ökonomie funktioniert. Die Familie wird durch Akte des Gabentausches zusammengehalten, Akte, durch die alle Herrschaftsbeziehungen in verklärte Gefühlsbeziehungen verwandelt werden. Und die Herrschaftsbeziehungen innerhalb der Familie basieren auf der unterschiedlichen Kapitalausstattung der einzelnen Familienmitglieder: ihrem jeweiligen Einkommensniveau, ihrem Bildungsgrad, ihrem sozialen Status, ihrem Beziehungsnetz.
Die Logik des Gabentauschs und die ihm zugrundeliegenden symbolischen Interessen bilden den Gegenstand der beiden folgenden Kapitel. Wer sich näher mit den Unterschieden zwischen dem Gabentausch und dem geldvermittelten Äquivalententausch befassen will, ist mit dieser allgemeinverständlichen Darstellung gut bedient.
Das Buch endet mit der Analyse der besonderen Irrtümer, die der, wie Bourdieu es nennt, "scholastischen Sichtweise" entspringen. Womit die irrtümlichen Auffassungen von Praxis gemeint sind, die die akademische Welt hervorbringt, weil sie von materiellen und zeitlichen Zwängen weitgehend entlastet ist.
Alles in allem genommen weist das Buch "Praktische Vernunft" etwa ebenso viel Mängel wie Vorzüge auf. Es ist ihm durchaus anzumerken, daß es aus der Montage unabhängig voneinander entstandener Texte hervorgegangen ist. Es behandelt zu viele Gegenstände auf zu wenig Raum, und die Zahl neuer Gedanken hält sich in Grenzen.