Dienstag, 19. März 2024

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Prekäre Beschäftigungen
"Wir müssen zurückkommen zu einer höheren Tarifbindung"

Fleischindustrie, Einzelhandel oder Gastronomie: Seit Anfang des Jahrtausends habe man in Deutschland einen stark expandierenden Niedriglohnsektor, kritisiert der Arbeitsmarktexperte Gerhard Bosch. Ein höhere Tarifbindung sei deshalb dringend notwendig, sagte er im Dlf.

Gerhard Bosch im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 10.07.2020
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"In der Gastronomie ist jeder Zweite ein Niedriglohn-Bezieher", sagte der Arbeitsmarktexperte Gerhard Bosch im Dlf (picture alliance/Sina Schuldt/dpa)
Die zahlreichen Ausbrüche von COVID-19 in deutschen Schlachthöfen haben erneut die Diskussion über die Arbeitsbedingungen in der Branche befeuert. Doch nicht nur in der Fleischindustrie sind die Arbeitsbedingungen schlecht. Auch die Gastronomie und der Einzelhandel sind beispielsweise betroffen. Arbeitsmarktexperte Gerhard Bosch sieht den Grund dafür in der gesunkenen Tarifbindung. "Früher, so um 1990, wurde fast jeder in Deutschland nach einem Tarifvertrag bezahlt. Da bekam man als qualifizierte Verkäuferin 14 bis 15 Euro nach heutigem Stand", sagte er im Dlf. Heute gehörten viele Unternehmen keinen Arbeitgeberverbänden mehr an. "Das genau ist der wichtigste Grund für die Zunahme von Niedriglohn-Beschäftigung in Deutschland", kritisiert Bosch.
Zurheide: Herr Bosch, Sie haben gerade – und Sie haben mir das gestern schon vorab zugeschickt – noch mal einen aktuellen Forschungsbericht des Instituts Arbeit und Qualifikation aus Gelsenkirchen zugeschickt. Wenn ich Sie jetzt bitte, die Kurzfassung der Lage in der Fleisch- und Schlachtindustrie zu geben, wie lautet dann Ihre Einschätzung?
"Die Branche hat die Politik an der Nase herumgeführt"
Bosch: Die skandalösen Zustände, Wildwest in der Fleischindustrie, sind seit Anfang 2000 bekannt. Die Branche hat die Politik an der Nase herumgeführt, hat immer wieder Selbstverpflichtungen versprochen, Besserung versprochen. Das ist nicht passiert. Der Höhepunkt war jetzt in der Coronakrise die große Ansteckung. Die Politik konnte sich mehr verstecken und es ist wirklich zu einer weitreichenden gesetzlichen Regelung gekommen, nämlich zu einem Verbot der Werkverträge, der Vergabe an Sub-Subunternehmen, für deren Arbeitsbedingungen sich Herr Tönnies angeblich nicht mehr verantwortlich fühlt.
Schlachter neben hängenden Fleischteilen
Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie - "Man verbraucht Menschen"
Die Fleischindustrie behandle Arbeitsmigranten aus Osteuropa wie Maschinen, die man bei Subunternehmen anmiete. Die Menschen würden ausgebeutet und dann wieder ausgetauscht, sagte Pfarrer Peter Kossen im Dlf.
Zurheide: Wir werden gleich noch über das sprechen, was das insgesamt heißt. Aber ich will noch mal einen Moment zurückschauen. Sie haben darauf angesprochen, dass die freiwilligen Selbstverpflichtungen, die es ja gibt (die gibt es ja, weil die Zustände mehr als einmal berichtet worden sind; auch wir beide haben mehr als einmal darüber gesprochen) - warum wirkt das mit diesen Selbstverpflichtungen nicht?

Bosch: Weil man eigentlich kein Interesse daran hat. Da steckt viel Geld hinter, große Profite. Es macht einen Unterschied, ob man einen billigen Subunternehmer bezahlt, der seinen Leuten fünf bis sechs oder sieben Euro gibt, ihnen noch Geld dafür abzieht durch unwürdige Wohnbedingungen, oder ob man Leute als eigene Beschäftigte anstellt, möglicherweise dann auch sich ein Betriebsrat bildet, der darauf achtet, dass die Regelungen, die gesetzlichen Regelungen auch eingehalten werden. Dann wird die Angelegenheit schon teurer. Für den Konsumenten auch etwas, wobei das nicht den großen Preissprung bringen würde.
Gerhard Bosch, Direktor des Instituts für Arbeit und Qualifikation
Der Arbeitsmarktexperte Gerhard Bosch (dpa / picture-alliance / Martin Gerten)
Tarifbindung ist gesunken
Zurheide: Jetzt gehen wir mal weg vom Fleisch und der Fleischindustrie. Das ist hinreichend in diesen Tagen besprochen worden. Wenn ich Sie allgemein frage: Der deutsche Arbeitsmarkt – ich habe Zahlen im Kopf, dass wir ähnlich wie die Vereinigten Staaten den höchsten Anteil, weit über 20 Prozent an prekär Beschäftigten, oder wie auch immer das definiert ist, haben. Wie sehen Sie den deutschen Arbeitsmarkt heute im Jahr 2020?

Bosch: Ja, der deutsche Arbeitsmarkt hat bis vor der Coronakrise zwei Seiten gehabt: ein riesiger Arbeitsmarktaufschwung, Beschäftigungsniveau auf Rekordstand. Auf der anderen Seite haben viele Leute daran nicht teilgehabt, an dem Wohlstandsgewinn, und wir haben in der Tat seit Anfang des Jahrtausends einen kräftig expandierenden Niedriglohnsektor, über 20 Prozent, so wie in den USA. Das ist richtig. Allerdings haben bei uns die Geringbezahlten eine Krankenversicherung. Der Hauptgrund dafür ist, dass die Tarifbindung gesunken ist. Früher, so um 1990, wurde fast jeder in Deutschland nach einem Tarifvertrag bezahlt. Da bekam man als qualifizierte Verkäuferin 14 bis 15 Euro nach heutigem Stand. Wenn das Unternehmen nicht mehr einem Arbeitgeberverband angehört, dann bekommt man häufig nur den Mindestlohn, und das genau ist der wichtigste Grund für die Zunahme von Niedriglohn-Beschäftigung in Deutschland.
"Ich sehe als wichtigsten Schritt einen höheren Mindestlohn"
Zurheide: Welche Branchen sehen Sie denn jetzt jenseits der Fleischindustrie, über die wir gesprochen haben?

Bosch: Ganz viele Branchen. Die Fleischindustrie hat ja nur 40.000 Beschäftigte, der innere Kern. Das ist eine kleine Branche, allerdings mit großen Profiten. Der größte Bereich ist der Einzelhandel und die Gastronomie. In der Gastronomie ist jeder zweite ein Niedriglohn-Bezieher. Das ist der größte Block. Dann gibt es viele andere Branchen, die Paketzulieferer und Taxifahrer und viele kleine private Dienstleistungen vor allem, und andere Bereiche der Nahrungsmittelindustrie.

Zurheide: Jetzt kommen wir mal hin zu den Lösungen. Sie haben es gerade schon angesprochen. In der Fleischindustrie war der politische Druck offensichtlich inzwischen so groß, dass es da Änderungen geben musste und auch konnte, dass es da Mehrheiten gegeben hat. Die Werkverträge als alleiniges Problem, ist das der richtige Ansatz?

Bosch: Nein, das ist ein Ansatz, weil die Auslagerung auf Werkvertragsunternehmen und in undurchsichtige Sub-Subunternehmer-Ketten, das zielt darauf, den Beschäftigten es nicht mehr möglich zu machen, sich zu wehren, weil man nicht mehr gemeinsam beschäftigt ist beim Unternehmer. Da werden Betriebsratsbildungen verhindert. Insofern ist die Begrenzung der Vergabe nach unten schon ein wichtiger Schritt.
Aber ich sehe als wichtigsten Schritt einen höheren Mindestlohn, der das Lohngefüge nach unten stabilisiert. Der Mindestlohn hat ja in der Fleischindustrie schon etwas bewirkt. Und dann muss darauf aufbauen ein Tarifvertrag. Wir hatten zum Beispiel im deutschen Einzelhandel bis 2000 eine hundertprozentige Tarifbindung, weil die Tarife allgemeinverbindlich waren. Dann haben die Arbeitgeber gesagt, Schluss damit, und heute sind wir nur noch bei 37 Prozent und immer mehr Unternehmen gehen raus und die Lohnstruktur bröckelt, selbst wenn die Wirtschaft wächst. Wir müssen zurückkommen zu einer höheren Tarifbindung.
Mitarbeiter des Fleischunternehmens Tönnies arbeiten am 28.02.2013 in Rheda-Wiedenbrück (Nordrhein-Westfalen) an einem Fließband.
Niedriglohnsektor - Rumänen und Bulgaren in Deutschland
Hunderttausende Osteuropäer arbeiten in Deutschland unter unwürdigen Arbeitsbedingungen. Sie schuften bis zu zwölf Stunden am Tag auf dem Bau oder in Fleischfabriken, leben in kargen Unterkünften, bekommen weniger als den Mindestlohn.
Lohnsteigerungen Schritt für Schritt
Zurheide: Auf der anderen Seite heißt das Argument dann immer, dann gehen Arbeitsplätze verloren. Stimmt das oder stimmt das nicht?

Bosch: Das haben wir ja auch gehört, bevor der Mindestlohn eingeführt wurde. Katastrophen-Szenarien, die alle nicht eingetreten sind. Im Gegenteil! In den Branchen, in denen schlecht bezahlt wurde, ist die Beschäftigung sogar stärker gewachsen als in den anderen Branchen. Der Grund ist wahrscheinlich: Die Leute haben mehr Geld in der Tasche und können sich mehr leisten. Außerdem sehen wir, wenn wir einen Blick werfen in die skandinavischen Länder, wo die Tarifbindung bei 90 bis 100 Prozent liegt, dass dort die Beschäftigungsquote, der Anteil der Erwerbsbevölkerung, die tatsächlich einen Job haben, deutlich höher ist als bei uns. Das ist wirklich kein Grund. Man kann natürlich nicht von heute auf morgen Lohnsteigerungen von 20 Prozent durchführen, aber Schritt für Schritt ist das durchaus möglich.

Zurheide: Jetzt kommt natürlich die andere Frage. Wenn Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt werden, wenn der Mindestlohn erhöht wird, dann kommt die Frage, wofür brauchen wir dann noch Gewerkschaften.

Bosch: Das sehe ich nicht so. Klar, einige Gewerkschafter sagen, wenn der Tarifvertrag allgemeinverbindlich ist, hat man keinen Anreiz mehr, in eine Gewerkschaft hineinzugehen. Da ist auch was dran. Aber andererseits ist es so: Wenn bestimmte Normen gelten und dann die Gewerkschaften über starke Betriebsräte eigentlich der wichtigste Akteur sind, die dafür sorgen, dass diese Bedingungen auch eingehalten werden, dann können sie durchaus Mitglieder werben. Wir haben ja gesehen: Dort wo die Tarifbindung sich verringert hat, sind Gewerkschaften teilweise aus den Betrieben ganz verschwunden. Es hängt auch dann von den Gewerkschaften ab, die dann ihre Rolle als Arbeitsinspektion und der Bearbeitung aller Beschwerden der Beschäftigten wirklich ernst nehmen.
"Es passiert nichts von selbst. Es passiert alles nur auf Druck"
Zurheide: Sehen Sie jetzt in diesen Tagen und in diesen Monaten ein ernsthaftes Zeitfenster, dass sich da politisch etwas ändert in dem Sinne, wie wir beide das hier gerade diskutieren?

Bosch: Leider nicht. Es passiert nichts von selbst. Es passiert alles nur auf Druck. Das muss ein politisches Thema werden. Das ist mit dem Mindestlohn gelungen. Der stand ungefähr zehn Jahre auf der politischen Agenda und dann war er quasi unvermeidbar, weil er so viel Rückhalt gefunden hat in der Bevölkerung. Bei der Tarifbindung ist das viel schwieriger, weil das viel komplexer ist. Es geht ja nicht um eine fixe Größe, sondern es geht um ein ganzes Lohngitter, Bezahlung nach Qualifikation, nach harten Arbeitsbedingungen für Verantwortung. Das ist schwerer auf eine einfache Lösung zu bringen. Aber es muss zu dem Paket gerechte Bezahlung gehören und ich glaube, in unserer Bevölkerung gibt es ein großes Gerechtigkeitsgefühl. Wenn man das politisch geschickt macht und die Gelegenheitsfenster wie jetzt nutzt, dann sehe ich durchaus eine Chance.

Zurheide: Geben Sie mir ein Beispiel. In der Altenpflege etwa, was ist da Tarif und was kommt da, wo nicht Tarif gezahlt wird, am Ende für die Menschen bei raus?

Bosch: Der Goldstandard ist der Tarif des öffentlichen Dienstes. Da gehen die Gehälter bis 3400, 3500 Euro. Das ist ein wirklich ordentliches Gehalt und auch angemessen. Dann gibt es private Tarifverträge für einzelne Wohlfahrtsverbände. Die liegen schon darunter. Und gezahlt wird in Ostdeutschland zum Teil nur bis 1900 Euro oder 2000 Euro. Die Spannbreite ist gigantisch. Das heißt, man muss den Beschäftigten auch klarmachen: Wenn ihr eine Tarifbindung habt, dann gewinnt ihr auch wirklich etwas.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.