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Premiere am Berliner Staatsballett
Frauen auf Spitze

Premiere des Ballett-Abends "Balanchine, Forsythe, Siegal" in Berlin: George Balanchine erinnert in "Theme and Variations" an das russische Ballett und William Forsythes "The Second Detail" zeigt athletische Sportler. "Oval" von Richard Siegals kombiniert Spitzentanz mit Leder und Latex.

Von Wiebke Hüster | 05.05.2019
"Theme and Variations" by George Balanchine am Berliner Staatsballett, Mai 2019
Ganz klassisch: "Theme and Variations" von George Balanchine am Berliner Staatsballett - bei Siegal gab es hingegen erotischere Begegnungen (Staatsballett Berlin / Yan Revazov )
George Balanchine liebte Peter Iljitsch Tschaikowskys Musik über die Maßen. Der Zauber von Tschaikowskys Musik wirkte nach aus der Kindheit Balanchines, als dieser bereits im Alter von neun Jahren in St. Petersburg in den klassischen Balletten auf der Bühne stand. So bedauerte er später einmal, dass einige ganz und gar tänzerische Kompositionen Tschaikowskys, die dieser nicht explizit für die Bühne geschrieben hatte, zu dessen Lebzeiten keinen Choreographen gefunden hatten.
Das machte Balanchine wieder gut. Zum Beispiel mit dem wundervollen "Theme And Variations" zum letzten Satz der Orchestersuite Nr. 3 Opus 55.
Balanchines Choreographie dazu zeigt Reminszenzen an die Blüte des klassischen Tanzes am Zarenhof. Zugleich überführt er die Schönheiten dieser Posen und Balancen, dieser verspielten oder grandiosen Schrittkombinationen in die Gegenwart und stellt sie nicht in den Dienst einer Erzählung, wie das in Petipas berühmten Handlungsballetten wie dem "Nußknacker" der Fall gewesen war, sondern entblättert den Tanz, bis seine ureigene pure Kunst-Identität zutage tritt und für sich spricht. Darum hat man das Gefühl beim Erleben, dass diese bestimmte Musik gar nicht anders choreographiert werden könne als so, wie Balanchines Meisterwerke sie ausgestalten.
Natürlich haben darum die ästhetischen Nachfolger - die in der Tradition von Balanchines Neoklassik arbeitenden, aber in den Gefilden des Tanztheaters räubernden Choreographen der Gegenwart - nicht das Bedürfnis, sich darin messen zu wollen, Tschaikowskys nicht für das Theater geschaffene Werke zu choreographieren. Dennoch sind auch zeitgenössischen Choreographen Kollaborationen mit lebenden Komponisten ihrer jeweiligen Generation wichtig.
Phantastisch getanzt und musiziert
Das Staatsballett Berlin ordnet die drei Choreographen chronologisch an diesem phantastisch getanzten und musizierten Abend. Und so kann man den Unterschied und den ästhetischen Riesensprung von Tschaikowsky zu Thom Willems sinnlich unmittelbar erfassen, wenn nach der ersten Pause William Forsythes Meisterwerk "The Second Detail" aufgeführt wird, ein cooles, noch viel abstrakteres Ballett von 1991.
Immer wieder nehmen die Tänzer bei Forsythe hinten auf Hockern Platz wie in einer Versuchsanordnung oder bei einer Täter-Identifizierung. Die klinische Kälte des grauen, leeren Sets mit dem Wort "The" im Vordergrund bildet die Atmosphäre für einen spielerischen, an Sportler auf dem Feld erinnernden Umgang der Tänzer miteinander.
Man setzt ein und steigt wieder aus. Und "emotional" oder "liebreizend" oder "charmant" wären Worte, die - kaum ausgesprochen - in Balanchines 40er-Jahre-Choreographie zurückversetzen würden. Trotzdem geben sich Forsythes Männerfiguren auch, als würden sie die Frauen bewundern und gerne stützen, heben und ihnen die irrsten Bewegungen ermöglichen und sie so begleiten, wie diese es wünschen.
Kostüme mit Leder und Latex
Richard Siegals Uraufführung "Oval" heißt so, weil ein grandioses, ovales, ringförmiges, surreal beleuchtetes Objekt darin über die Szene fliegt und in immer neuen Winkeln und Beleuchtungen die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Doch statt eleganter, moderner Musen wie bei Balanchine oder athletischer Sportlerinnen wie bei Forsythe tanzen bei Siegal Frauen auf Spitze, deren Vulgarität etwas verstört. Die an Leder und Latex reichen Kostüme verweisen auf erotische Begegnungen und bleiben doch seltsam anonym, und etwas vom Berliner Zeitgeist angehaucht.