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Pressefreiheit gegen Flüchtlingsplan?
Türkische Regierungskritiker fühlen sich von EU verraten

Damit die Türkei die vielen Flüchtlinge im eigenen Land behält, bekommt die Regierung drei Milliarden Euro von der EU. Regierungskritiker sehen diesen Deal skeptisch: Während Brüssel Verstöße gegen demokratische Werte im möglichen Beitrittsstaat Türkei früher direkt kritisierte, ist es heute still geworden. Und das obwohl Ankara die Pressefreiheit mit Füßen tritt.

Von Luise Sammann | 18.12.2015
    Can Dündar spricht in mehrere Mikrofone. Sein Gesichtsausdruck ist ernst.
    Can Dundar, Chefredakteur von Cumhuriyet, begrüßt Unterstützer und Demonstranten während einer regierungskritischen Kundgebung in Istanbul. (dpa/picture alliance/Vedat Arik/Cumhuriyet Newspaper)
    Am Rande des EU-Gipfels in Brüssel traf sich der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu schon wieder mit den Regierungschefs von elf EU-Staaten der sogenannten Koalition der Willigen. Vor zwei Wochen hatte Brüssel mit Ankara einen Aktionsplan in der Flüchtlingskrise vereinbart. Damit die Türkei die Migranten im eigenen Land behält und dort besser versorgen kann, bekommt die türkische Regierung drei Milliarden Euro von der EU. Die Milliardenhilfen sind nun zusammen und Davutoglu ist zufrieden.
    Geld statt mahnender Worte wie sonst in Brüssel – allerdings war das vor der Flüchtlingskrise, nun ist die EU auf die Hilfe der Türkei angewiesen und hält sich mit Kritik zurück an Ankaras "Interpretation" der demokratischen Werte, wie der Pressefreiheit. In Istanbul sieht man das mit Besorgnis. Dilek Dündar nimmt einen Zug von ihrer Zigarette. "Rauchen ist im Büro meines Mannes eigentlich verboten", sagt die 55-Jährige – und deutet verschwörerisch auf den vollen Aschenbecher neben sich.
    Wenn es etwas Gutes an der Verhaftung von Can Dündar gibt, dem vielleicht bekanntesten Journalisten der Türkei, dann höchstens die Tatsache, dass seine Frau nun ungestört in seinem Zimmer rauchen kann. Dilek Dündar lacht bitter und sagt: "Ich war gestern bei ihm im Gefängnis. Seine Laune war gut, auch wenn diese Treffen durch eine Glasscheibe natürlich etwas traurig sind. Aber es ist typisch für Can, dass er immer positive Energie versprüht. Er hat mir gesagt, dass er zwei Bücher pro Woche liest und außerdem wieder an einem eigenen Buch arbeitet..."
    Seit dem 26. November sitzen Can Dündar, Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet, und sein Kollege Erdem Gül in der Nähe von Istanbul in Isolationshaft und warten auf ihre Verhandlung. Weil sie im Frühsommer Fotos veröffentlichten, die angeblich türkische Waffenlieferungen nach Syrien zeigen, drohen ihnen gleich mehrfach lebenslange Haftstrafen wegen Geheimnisverrat. Der Kläger: Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan!
    "Wir lebten in ständiger Angst"
    "Wir haben die Verhaftung eigentlich erwartet." Sagt Dilek, die nicht nur Can Dündars Ehefrau sondern bei zahlreichen Veröffentlichungen auch seine Kollegin ist. "Seit dem letzten AKP-Wahlsieg wussten wir, dass es jederzeit so weit sein kann. Schließlich hat der Präsident ihn öffentlich bedroht. Und in den Erdogan-nahen Medien stand damals, die CIA erledige Leute wie Can normalerweise durch einen plötzlichen Autounfall'! Die Frage war also: Werden sie ihn umbringen oder nur verhaften. Wir lebten in ständiger Angst."
    Seit mehr als 20 Jahren schreibt Can Dündar für regierungskritische Zeitungen, kämpft mit Buchveröffentlichungen, Artikeln und Dokumentarfilmen für mehr Demokratie und Menschenrechte in der Türkei. Durch seine unerbittliche Kritik am System Erdogan, galt er zunehmend als dessen persönlicher Erzfeind. Gleichzeitig stieg er zu einem der Wortführer türkischer Regierungsgegner auf. "Er war sehr beliebt", sagt Dilek Dündar, "vielleicht soll seine Verhaftung wie ein Warnschuss sein: Seht her, wir greifen uns sogar Can Dündar! Das ganze ist immer auch ein psychologischer Krieg..."
    Murat Sabuncu, Cumhuriyet-Redakteur und enger Freund von Can Dündar sagt: "Indem sie ausgerechnet Can Dündar einsperren lässt, wollte die Regierung die allgemeine Angst vergrößern. Besonders bei den großen Medien wächst schon seit Langem die Selbstzensur. Und auch jeder Bürger, jede Firma, jeder Twitternutzer muss heute fürchten, verhaftet zu werden. Sie haben eine Atmosphäre der Angst geschaffen und jetzt sperren sie einen nach dem anderen ein. Aus Furcht er könne der nächste sein, reagiert kaum jemand. Eine clevere Taktik."
    Regierungskritiker schreiben mahnenden Brief an die EU-Kommission
    Tatsächlich blieben die Massenproteste aus Gezi-Zeiten nach der Verhaftung von Can Dündar und Erdem Gül aus. Nur einige Hartgesottene beteiligen sich an der ständigen Mahnwache am berüchtigten Silvilri Gefängnis vor den Toren Istanbuls. Mindestens genauso wie das Schweigen ihrer Landsleute aber schockiert die Angehörigen der Häftlinge das Schweigen der EU. Murat Sabuncu sagt: "Can wurde an einem Donnerstag verhaftet. Am Sonntag darauf wurde Ahmet Davutoglu – der Premier eines Landes, das Journalisten einsperrt! – in Brüssel mit Applaus empfangen. Ich werde dieses Bild nie vergessen: Davutoglu zusammen mit Merkel, Hollande und Tsipras... Unverzeihlich! Dieses Europa sollte der Türkei nie wieder mit Predigten über Demokratie, Menschenrechte oder Pressefreiheit kommen."
    Auch ein Brief, den Can Dündar und Erdem Gül aus dem Gefängnis an die EU-Kommission schrieben, verhallte bisher ungehört. Ausdrücklich rufen die türkischen Journalisten Brüssel darin auf, für einen Flüchtlingsplan mit Ankara nicht die westlichen Werte zu verraten. Doch genau das, so befürchtet auch Dilek Dündar, passiert in diesen Tagen. Sie sagt: "Ich habe dazu immer etwas gesagt, worüber Can sehr gelacht hat: Jetzt benutzt die EU die Türkei noch als Puffer gegen die Flüchtlinge. Aber was, wenn die Türkei selbst zur Diktatur wird? Was tun sie dann gegen all jene, die von hier zu ihnen fliehen werden? Auch deswegen sollte der EU die türkische Demokratie sehr am Herzen liegen!"