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Presserat entscheidet über Online-Umfragen
Emotionen statt Fakten

Umfragen sind äußerst beliebt bei Journalisten - und vermehrt starten sie auch eigene im Internet. Besonders aussagekräftig sind die Ergebnisse zwar nicht und gefährden so die journalistische Glaubwürdigkeit. Ein Ende des Trends ist aber dennoch nicht abzusehen.

Von Stefan Fries | 22.03.2018
    Online-Umfragen sind allgegenwärtig. Hier fragt die Süddeutsche Zeitung danach, wer Facebook verlassen will.
    Online-Umfragen sind allgegenwärtig. Hier fragt die Süddeutsche Zeitung danach, wer Facebook verlassen will. (Deutschlandfunk / Michael Borgers)
    Dirk Wildt aus Passau ist Lokalpolitiker bei den Grünen. Auf der Webseite der regionalen Tageszeitung "Münchener Merkur" fand er im vergangenen Jahr eine Umfrage zu einer möglichen dritten Startbahn am Münchener Flughafen. Die Nutzer konnten abstimmen, ob sie diese für nötig halten oder nicht. Wildt klickte.
    "Aber nachdem ich schon mal die Erfahrung gemacht habe, dass man bei diesen Tools mehrfach abstimmen kann, habe ich getestet, ob man denn ein zweites Mal abstimmen kann. Und im ersten Moment sieht es dann so aus wie Nein. Man kann kein zweites Mal abstimmen. Aber das Ganze wird über ein Cookie auf dem Rechner gespeichert, und wenn man den abschaltet, dann kann man eben ein zweites Mal abstimmen. Und dann habe ich einfach zehn Stimmen abgegeben, nur um zu testen, ob es funktioniert."
    Es funktionierte. Wildt informierte den Münchner Merkur, der die Umfrage aber weiter online ließ. Am Ende hatte Wildt 182 Mal geklickt und vergrößerte den Abstand zwischen Startbahngegnern und Anhängern um acht Prozentpunkte. Dass die Umfrage manipulierbar war, räumt auch die Redaktion des Münchner Merkurs ein. Sie sei aber ohnehin nicht repräsentativ, sagt Online-Chef Markus Knall.
    "Die Zuverlässigkeit ist genauso gegeben wie bei vielen anderen Votings, die es auch gibt, nicht nur im Online-Bereich. Denken Sie an Teletext-Abstimmungen, wo auch suggeriert wird, hier gibt es ne Frage des Tages, wo Leute anrufen. Auch bei, sagen wir mal, Zeitungen und Zeitschriften: Telefonumfrage. Auch dort ist es ja nicht geregelt, ob Leute mehrfach anrufen."
    "Glaubwürdigkeit des Journalismus in Gefahr"
    Für den Grünen-Politiker Dirk Wildt bedeutet das aber: Wenn eine Umfrage nicht repräsentativ und auch noch von Lobbygruppen instrumentalisierbar ist, sie sie überhaupt nicht aussagekräftig. Er sieht die Glaubwürdigkeit des Journalismus in Gefahr. Man könne auf einer Webseite nicht gleichberechtigt recherchierte Informationen und manipulierbare Umfragen nebeneinanderstellen.
    Dirk Wildt hat sich wegen der Startbahn-Umfrage beim Deutschen Presserat beschwert. Merkur-Online-Chef Knall begrüßt, dass sich der Presserat damit befasst. Er verweist darauf, dass so eine Online-Umfrage auch leicht von Interessengruppen gekapert werden kann, etwa als die AfD bei der Frage nach der Wählerpräferenz plötzlich auf einen unrealistischen Stimmenanteil von 80 Prozent kam.
    "Wir sehen und sind sehr sensibel gegenüber den Problemen, die Online-Votings erzeugen. Das ist ein Problem über die Branche hinaus, und eine Klärung zu finden, ist sehr, sehr sinnvoll. Wir sehen aber auch, dass es Möglichkeiten gibt, dem entgegenzusteuern. Der Aufwand ist nur sehr hoch."
    Erste Beschwerde beim Presserat
    Für den Presserat war es die erste Beschwerde über Online-Umfragen. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Frage verhandelte er sie gestern nicht im Beschwerdeausschuss, sondern im Plenum. Der Rat sieht in der Umfrage des Münchner Merkurs nach Angaben seines Sprechers Volker Steinnei einen Verstoß gegen der Pressekodex, sprach sich aber dagegen aus, gegen die Zeitung vorzugehen, weil diese sich sehr intensiv mit dem Problem auseinandergesetzt habe:
    "Auch bei Votings oder anderen Online-Umfragen muss der Leser nachvollziehen können, auf welcher Basis diese durchgeführt wurden. Dies ist für die Glaubwürdigkeit der Presse unabdingbar. Diese Transparenz fehlte bei dieser Umfrage für den User, da sie in den redaktionellen Kontext eingebettet war, aber nicht ersichtlich war, ob es sich um eine repräsentative oder nicht repräsentative Umfrage handelte."
    Dass das dazugesagt werden muss, steht so bereits jetzt im Pressekodex. Geändert werden müsse der deswegen nicht, findet Stennei.
    Ungebremster Trend
    Trotz des Verstoßes: Die Entscheidung des Presserats dürfte die Begeisterung von Journalisten für Online-Umfragen nicht bremsen. Schließlich dienen diese vor allem der Leserbindung, hat Markus Knall als Online-Chef für den Münchner Merkur und die Münchener Boulevardzeitung TZ festgestellt.
    "Es ist ein Engagementfaktor, um in der Onlinesprache zu bleiben. Es geht darum, dass bei einem Thema, das Leute sehr mitnimmt, dass sie dann auch dort ihre Meinung punktuell artikulieren können. Sie bleiben ein Stück länger bei uns, sie setzen sich damit auseinander, sie sehen, wie jetzt gerade an diesem Tag, in dieser Stunde auch andere Menschen denken."
    Der Markt für solche Umfragen wächst. Die Berliner Umfrageunternehmen Civey und Opinary sind mit ihren Umfragen, die auf unterschiedlichen Geschäftsmodellen beruhen, auf immer mehr journalistischen Webseiten zu finden. Der WDR setzt sogar auf eine App für Umfragen. Name: "Emovote". Nur Zufall, dass das eher nach Emotionen statt nach Fakten klingt?