Dienstag, 16. April 2024

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Primor: Demonstranten in Israel fordern Wandel der staatlichen Prioritäten

Ein Großteil der Bevölkerung Israels profitiere nicht von dem massiven wirtschaftlichen Aufschwung der letzten Jahre, sagt Avi Primor, ehemaliger Botschafter Israels in Deutschland. Zudem sorgten Siedlungspolitik und hohe Rüstungsausgaben zunehmend für Missmut.

Avi Primor im Gespräch mit Gerd Breker | 11.08.2011
    Gerd Breker: Ich bin nun telefonisch verbunden mit Avi Primor, dem ehemaligen Botschafter Israels hier in Deutschland und heutigem Präsidenten der Israelischen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Guten Tag, Herr Primor!

    Avi Primor: Guten Tag!

    Breker: Herr Primor, es begann in Israel als Jugendprotest und inzwischen ist es mehr, es ist zu einer richtigen Sozialbewegung geworden. Was sind die Umstände, unter denen diese Bewegung entstehen konnte?

    Primor: Also wie immer ist der Auslöser in solchen Sachen eine Nebensächlichkeit, aber in Wirklichkeit gibt es natürlich Grundprobleme. Das hat alles mit einer dummen Frage der Preise der Weißkäse begonnen, die plötzlich verdoppelt worden waren, weil es eben solche Gesellschaften gibt, die die israelische Wirtschaft kontrollieren. Das sind Kartelle, und dagegen hat man protestiert. Aber wie gesagt, hat sich herausgestellt, dass das nur ein Auslöser war, in Wirklichkeit gibt es ein Grundproblem. Das Problem ist nämlich, dass die israelische Wirtschaft in den letzten zehn Jahren oder zumindest in den letzten sieben Jahren sich unheimlich schnell entwickelt. Die Wachstumsrate ist sehr hoch, steht über fünf Prozent. Vergleichen Sie das heute mit Europa, da werden Sie sehen, hauptsächlich entwickelt sich die hochtechnologische Industrie und so weiter, aber die Bevölkerung in ihrer Mehrheit und vor allen den Mittelschichten profitieren davon gar nicht, ganz im Gegenteil, ihr Lebensstandard schrumpft. Sie sehen, wie die Wirtschaft sich entwickelt, sie sehen, wie die Kartelle sich bereichern, wie die hohen Beamten der Kartelle wahnsinnige Gehälter bekommen, und sie selber haben immer weniger Einkaufskraft. Die Gehälter haben sich seit zehn Jahren nicht bewegt und die Preise steigen und steigen, weil es eben um Kartelle geht. Das ist zum einen. Hinzu wissen die Leute, dass es nicht nur deshalb ihnen schlecht geht, wegen Kartellen, die mit dem Staat oder mit der Politik und mit den Spitzenpolitikern persönlich verbunden sind, was schon am Rande der Korruption ist, aber auch, weil der Staat sein Geld anderswo investiert. Und das heißt zunächst noch mal in den Siedlungen, zweitens für die Ultraorthodoxen, die nicht arbeiten und immer mehr von dem Staat Geld bekommen, und drittens die Streitkräfte, deren Budget jedes Jahr weiter steigt. Und die Leute sagen, ja, da muss eine Wende kommen, die Prioritäten des Staates müssen sich ändern.

    Breker: Ist denn erkennbar, Herr Primor, dass die Politiker, dass die Regierung Netanjahu dies erkannt hat und nun umsteuert?

    Primor: Ja, die Regierung hat damit begonnen und Netanjahu persönlich und besonders seine Partei haben damit begonnen, dass sie die Demonstranten verleumden wollten und haben auch versucht zu sagen, das sind nur die Linken oder die Linksextremen sogar, mussten aber sehr schnell zurücktreten, weil sie begriffen haben, dass es eigentlich um die Mehrheit der Bevölkerung geht. Und insofern haben Sie sofort eine neue Taktik angewandt und gesagt, ja, die Leute haben recht, es geht ihnen tatsächlich schlecht und der Staat sorgt für sie nicht und wir müssen da eine Wende einführen und wir müssen dies und jenes machen. Netanjahu hat sogar hinzugefügt, dass er seine Ideologie ändern müsse, seine Grundideen ändern müsse und darauf verzichten. Die Frage ist, ob das alles nur Worte sind oder dahinter auch etwas Ernsthaftes steckt, das wissen wir nicht. Ich glaube, viel wird davon abhängen, ob die Demonstranten ausharren können und ob der Wind aus deren Segeln nicht nachlässt, nachdem sie Versprechungen von der Regierung haben. Weil wenn sie dann wieder nach Hause kehren, dann glaube ich nicht, dass viel davon werden wird. Allerdings haben sie gesagt, dass es diesen Samstag keine Demonstration in Tel Aviv geben wird, das stimmt. Demonstrationen wird es dennoch geben, nicht in Tel Aviv, in anderen Städten, damit man nicht meint, dass die Demonstranten sich nur in Tel Aviv befinden. Und am Samstag danach planen sie dann eine ganz große Demonstration in Tel Aviv, so groß, behaupten sie, wie man es in Israel noch nie gesehen hat.

    Breker: Und gibt es erkennbar, dass irgendwie die Opposition in Israel nun dabei ist, sich diesen Demonstranten anzuschließen, sich vielleicht sogar zum Fürsprecher dieser Sozialbewegung, die es ja inzwischen ist, zu machen?

    Primor: Die Opposition, wenn sie überhaupt existiert, also die Arbeitspartei ist so gut wie halb tot und die kann überhaupt keine Wirkung haben, andere kleine linke Parteien haben auch überhaupt keine Bedeutung und keine Wirkung. Es gibt eine Oppositionspartei, das ist die Kadima-Partei, die von Zipi Livni geführt wird, also die Partei, die Sharon ins Leben gerufen hat und deren Spitzenpolitiker Olmert, der Vorgänger von Netanjahu als Regierungschef, war, aber diese Partei ist mit den Reichen, mit den Konglomeraten, mit den Kartellen so verwickelt, genau wie der Likud, und ist insofern für die Demonstranten gar nicht glaubwürdig. Abgesehen davon wollen die Demonstranten keine politische Farbe zeigen. Sie wollen keine politischen Angelegenheiten ansprechen und sie wollen mit keiner Partei verbunden werden, weil sie sagen, sie sprechen im Namen der Bevölkerung und nicht im Namen einer politischen Tendenz oder einer politischen Partei. Und so wollen alle Leute im Lande auf ihrer Seite haben.

    Breker: Herr Primor, wenn in einer Demokratie nach unserem Verständnis die Mittelschicht mehr und mehr Angst haben muss, dass sie sozusagen in die Armut abrutscht und die Mittelschicht verschwindet, nur noch Reich und Arm übrig bleiben, dann ist das doch brandgefährlich für jede Gesellschaft.

    Primor: Das ist sehr gefährlich. Bislang läuft alles bei uns friedlich. Es verläuft alles friedlich, weil wir tatsächlich in einer echten Demokratie leben und die Leute davon ausgehen, dass sie ohne Gewalt Druck auf die Regierung in einer wirksamen Art und Weise ausüben können. Die wissen auch, dass sie die Mittel zur Verfügung haben, um eine Regierung zu wechseln. Sollte all dies aber keine Ergebnisse haben, dann könnten wir natürlich auch Gewalttätigkeiten fürchten oder sollten wir sie fürchten.

    Breker: Gibt es denn, Herr Primor, irgendwelche Auswirkungen dieser Sozialprotest jetzt zu den Friedensgesprächen, zum Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern?

    Primor: Bislang überhaupt nicht, weil die Leute wie gesagt keine politische Farbe zeigen wollen. Sie wollen die Bevölkerung einigen und sie wollen keine Spaltungen haben, sie wollen keine Meinungsverschiedenheiten, und das heißt politische Angelegenheiten ansprechen. Aber im Hinterkopf weiß ja jeder, woher die Probleme entstehen – unter anderem, weil man in den Siedlungen so viel investiert, in die Siedlungen, und weil man die Streitkräfte immer stärken muss wegen des Kriegszustands und wegen der Angst vor weiteren Kriegen. Und weitere Kriege werden wir haben, wenn wir den Friedensprozess nicht einleiten. Also all dies ist bekannt, darüber spricht man aber nicht. Jeder weiß das, jeder hat das im Sinn, aber keiner spricht darüber, damit man keine politischen Spaltungen hervorbringt und eine nationale völkische Bewegung gegen die Regierung führen kann. Und bislang ist es denen gelungen. Aber irgendwann wird man natürlich die politischen Themen ansprechen müssen, umso mehr, weil es eben ohne die Lösung der politischen Angelegenheiten auch keine Lösung für die Wirtschaft geben wird.

    Breker: Hintergründe zur Sozialprotestbewegung in Israel waren das, die wir besprochen haben mit Avi Primor. Er ist der Präsident der Israelischen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Herr Primor, ich danke Ihnen sehr für diese Erklärungen!

    Primor: Ich bedanke mich auch!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.