Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Priorisierung ginge " auf Kosten der ärmeren Bevölkerungsschichten"

Der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, Professor Peter T. Sawicki, hält eine Priorisierung der Patientenbehandlungen für eine "schier unlösbare Aufgabe". Geld genug sei vorhanden - man müsse es nur richtig ausgeben.

Peter T. Sawicki im Gespräch mit Sandra Schulz | 20.05.2009
    Sandra Schulz: Allzu konkret ist der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, ja noch nicht geworden mit seinem Vorschlag für eine Abstufung bei den Behandlungen, die er "Priorisierung" nennt. Knapp gesagt: je bedrohlicher eine Krankheit, desto größer die Chancen eines Patienten, auf Kosten der Krankenversicherung behandelt zu werden – mit einem erheblichen Restrisiko für das eigene Portemonnaie des gesetzlich Versicherten. Sicher ist aber, dass Hoppe eine Debatte angestoßen hat, die auf dem Ärztetag in Mainz auch heute weitergehen wird.
    Was läuft also schief? – Das wollen wir zu klären versuchen im Interview mit Professor Peter Sawicki, dem Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, mit dem ich jetzt telefonisch verbunden bin. Guten Morgen!

    Peter T. Sawicki: Guten Morgen, Frau Schulz.

    Schulz: Wir haben jetzt seit Anfang des Jahres den Gesundheitsfonds, wir haben eine von den Ärzten mitentwickelte Reform bei den Ärztehonoraren, vier Milliarden Euro hat der Staat noch draufgelegt. Verstehen Sie, dass die Klage der Ärzte nicht abreißt?

    Sawicki: Das kann ich nicht verstehen. Die Ärzte haben es versäumt, ihre Arbeit und die Situation so zu regeln, dass sie mit dem vielen Geld, was wir für unser Gesundheitswesen haben, vernünftig so wirtschaften, dass wir die Patienten möglichst gut versorgen. Wir haben ja mehr Geld als fast alle anderen Länder auf der Welt für das Gesundheitswesen, das muss reichen.

    Schulz: Wenn man Herrn Hoppe hört, dann kann man vermuten, wenn ich das nächste Mal zum Arzt gehe, dann kann ich gar nicht mehr damit rechnen, vernünftig behandelt zu werden. Ist das so?

    Sawicki: Das kann so sein. Die Ärzte sind aufgeschreckt und aufgebracht. Zum Teil ist das gewollt, zum Teil denke ich aber auch, dass man tatsächlich überlegen sollte, mit denjenigen, die für das Gesundheitswesen zuständig sind, für die Selbstverwaltung (das sind auch Ärzte), wie können wir das viele Geld so ausgeben, dass wir den Patienten alles was notwendig ist zur Verfügung stellen, ohne Wartezeiten, ohne Ranglisten, ohne "Priorisierung".

    Schulz: Warum hat es diese Überlegungen nicht schon längst gegeben?

    Sawicki: Na ja, ich glaube, dass da einfach viel Zeit vertan wurde, dass viele geschlafen haben, aber es ist nicht zu spät. Ich glaube, wir können uns zusammensetzen und vernünftig überlegen, was ist überflüssig. Wir haben sehr viele überflüssige Dinge im System. Wir machen zu viele Herzkatheter-Untersuchungen, wir machen zu viele Röntgen-Untersuchungen, zu viele Computertomographien, es gibt zu viele Apotheken, es gibt zu häufige Arztbesuche. Das muss man so regeln, dass wir das Geld, was ja alle anderen Länder auch müssen, vernünftig ausgeben und dann braucht keiner auf Dinge zu verzichten.

    Schulz: Zu häufige Arztbesuche - das heißt, dass Sie dem Vorstoß von Herrn Hoppe durchaus was abgewinnen können, der sagt, wir brauchen eine "Priorisierung" bei den Behandlungen?

    Sawicki: Nein, das brauchen wir nicht, aber wir müssen uns überlegen, warum gehen die Patienten so häufig zum Arzt, hundert Mal häufiger pro Woche als in den uns umgebenden Ländern. Das sind Daten unseres Institutes, das haben wir erhoben. Was hat das für Gründe? Werden die Patienten immer wieder einbestellt, arbeiten die Praxen nicht effizient genug? Das muss man überlegen, bevor man als Erstes daran denkt, Menschen etwas wegzunehmen.

    Schulz: Wie könnte so eine "Priorisierung" denn aussehen, die Herr Hoppe angeregt hat?

    Sawicki: Das was ich gehört habe, dass man dann überlegt, welche Maßnahmen sind nicht unbedingt notwendig. Zum Beispiel lebensbedrohliche Erkrankungen (ich glaube, er hat Krebs genannt) die werden dann primär behandelt und andere Erkrankungen nicht. Aber das ist sehr schwierig. Wie sollen die Ärzte das machen? Wie sollen sie sagen, dieses Asthma ist jetzt lebensbedrohlich und das eben nicht, das wird bezahlt und das wird nicht bezahlt? Ich glaube, dass das nicht ausgegoren ist und dass auch Herr Hoppe da die Ärzte vor schier unlösbare Aufgaben stellt.

    Schulz: Aber ist es nicht jetzt auch schon so und ist es nicht auch selbstverständlich, dass Derjenige schneller und auch bevorzugt behandelt wird, der schwerer krank ist?

    Sawicki: Das ist jetzt so, natürlich, aber in diesem Vorschlag geht es darum, wenn ich ihn richtig verstanden habe, dass die Behandlungen gar nicht zur Verfügung gestellt werden, zum Beispiel dass bestimmte Verschleißerkrankungen an den Gelenken etwa nicht mehr behandelt werden. Das heißt, man kann sich unter Umständen dann eine Erkrankung nicht mehr leisten. Das heißt, man wird sparen müssen für ein Hüftgelenkersatz oder für ein Kniegelenkersatz, wenn das dann als eine Luxusbehandlung angesehen wird, oder man wird sich zusätzlich versichern müssen.

    Schulz: Geben wir denn genug aus für unsere Gesundheit? Herr Hoppe argumentiert ja auch damit, dass wir nur sechs Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes in die Gesundheit stecken und es andere Länder in der EU gäbe, die bis zu neun Prozent gehen.

    Sawicki: Wir geben elf Prozent aus und es ist so, dass das genug ist. Was wir ausgeben, ist in der Menge selten auf der Welt. Nur die Vereinigten Staaten geben mehr Geld aus, übrigens mit einem schlechteren Ergebnis. Die Schweiz gibt auch etwas mehr Geld aus. Gut, je mehr man hat, umso mehr gibt man aus, natürlich, aber mit Geld kann man auch Schaden anrichten. Wenn man zu viel operiert, zu viel Medikamente verordnet, zu viele Röntgen-Untersuchungen macht, das kann auch schädlich sein.

    Schulz: Ist es denn so, dass in Deutschland zu viel operiert wird?

    Sawicki: Zum Beispiel Privatpatienten werden häufiger operiert, obwohl sie gesünder sind als Kassenpatienten, werden auch häufiger geröntgt, haben quasi häufig zu nicht notwendigen Maßnahmen schnelleren Zugang.

    Schulz: Was haben die Patienten dagegen in der Hand? Wie können sich die Patienten dagegen wehren?

    Sawicki: Die Patienten können sich nicht wehren. Sonst würde man ja das Vertrauensverhältnis zwischen den Ärzten zerstören. Wenn ein Arzt einem Patienten etwas vorschlägt, dann muss der Patient nach Nachdenken und nach Nachfragen sich darauf verlassen können, dass der Arzt sein Bestes will. Ich fürchte, dass das in Zukunft durch eine solche "Priorisierung" auch untergraben wird.

    Schulz: Wenn wir jetzt noch mal auf den Vorschlag zu sprechen kommen, angelehnt ist dieses Modell ja an ein skandinavisches Modell. Wie kompatibel ist dieses System mit dem deutschen Gesundheitssystem?

    Sawicki: Ich glaube, dass wir das hier so ohne Weiteres nicht umsetzen können. Was ich davon gehört und gelesen habe, ist das nicht ohne Weiteres möglich. Ich fürchte vielmehr, dass man das benutzen wird als ein Rationierungsinstrument und dass dann man sagen wird, dass es möglich ist, sich zusätzlich zu versichern, und dann wird es Menschen geben, die sich nicht zusätzlich versichern können, weil sie nicht die finanziellen Kapazitäten haben, Zusatzversicherungen abzuschließen, und dann werden die Ärzte halt sagen, na gut, dann hast du halt Pech gehabt, dann kriegst du das oder etwas anderes nicht. Das heißt, das wird dann auf Kosten der ärmeren Bevölkerungsschichten gehen, und dass gerade ein solcher Vorschlag, ärmere Menschen in Zukunft schlechter zu behandeln, von Ärzten kommt, von einer Ärzteorganisation, das halte ich für sehr, sehr bedenklich.

    Schulz: Könnte es auch eine Provokation sein, um die Bedürfnisse der Ärzte in den Mittelpunkt der Debatte zu rücken?

    Sawicki: Das könnte natürlich auch eine Provokation sein. Ich weiß ja nicht, was politisch da an Hintergedanken vorhanden ist. Allerdings ist eine solche Provokation auch nicht ohne Nebenwirkungen, denn es kann sein, dass bestimmte Politiker dies dankend annehmen und das tatsächlich irgendwann in der nächsten Legislaturperiode umsetzen, und das würde zu einer Verschlechterung der Versorgung in Deutschland führen und ohne Not, denn wir haben genug Geld, man muss es nur richtig ausgeben. Vor allen Dingen muss man das, was nicht notwendig ist, aus dem System entfernen.

    Schulz: Aber wie kommt es, wenn Sie sagen, es gebe keinen Mangel, sondern es gebe teilweise auch eine Überversorgung, dass die Patienten ja diese Mangelerscheinungen zu spüren bekommen, dass sie die Erfahrungen in der Praxis machen, dass ihnen die Ärzte erklären, ich kann sie nur behandeln, wenn sie noch privat was drauflegen?

    Sawicki: Das liegt daran, dass die Ärzte zum Teil Budgets haben, dass durch dieses schlechte, ineffiziente Wirtschaften man Budgets eingeführt hat. Das heißt, die Ärzte haben Angst, wenn sie ihr Budget überschreiten, wenn sie zum Beispiel Massagen verschreiben oder bestimmte Röntgen-Untersuchungen, dass sie dann ihr privates, ihr persönliches Budget überschreiten und dann gegebenenfalls finanzielle Nachteile befürchten müssen. Das befürchten die Ärzte, der einzelne Arzt, und der gibt diese Befürchtung an Patienten so weiter, dass er ihnen halt eben bestimmte Maßnahmen vorenthält oder sie verschiebt. Wahrscheinlich will das Herr Hoppe korrigieren. Aber auch das ist nicht der richtige Weg meiner Meinung nach. Wir sollten uns zusammensetzen und überlegen, was schließen wir aus, was ist nicht notwendig, was ist Luxus, beziehungsweise was ist tatsächlich überflüssig. Die Bemühungen unseres Institutes, das zu tun, sind ja torpediert worden von Seiten der Ärzte. Das heißt, wir haben bestimmte Maßnahmen beschrieben, auf die man sehr, sehr gut verzichten kann oder die sogar schädlich sind, und das war mit den Fachgesellschaften bisher so nicht zu machen. Das finde ich sehr, sehr bedauerlich.

    Schulz: Einschätzungen waren das von Professor Peter Sawicki, dem Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, heute Morgen in den "Informationen am Morgen". Danke schön!

    Sawicki: Danke schön.