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Prix Goncourt 2019
Ein Menschenfreund gegen alle Widrigkeiten

Paul Hansen war ein Vierteljahrhundert lang Hausmeister eines Apartmentkomplexes im kanadischen Montreal – ein durch und durch freundlicher Mann. Jetzt sitzt er im Gefängnis. Wie konnte es dazu kommen? Davon erzählt der Franzose Jean-Paul Dubois in seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman.

Von Dina Netz | 01.09.2020
Der französiche Autor Jean Paul Dubois hat am 4.November den Prix Goncourt für seinen Roman "Tous les hommes n'habitent pas le monde de la meme facon" gewonnnen.
Am 4.November 2019 erhielt Jean-Paul Dubois den renommierten Prix Goncourt für seinen Roman "Tous les hommes n'habitent pas le monde de la meme facon". Nun liegt das Buch auch auf Deutsch vor. (Alexis Sciard/imago)
Paul Hansen sitzt im Gefängnis von Montreal. Zwei Jahre ohne Bewährung. Wofür, welches Verbrechen hat er begangen? Dass Jean-Paul Dubois die Antwort auf diese Frage erst ganz am Schluss gibt, ist der Clou an seinem Buch: Mit jeder Seite, auf der man Neues über den Protagonisten erfährt, fragt man sich mehr, was um Himmels Willen dieser harmlose, freundliche Mann verbrochen haben mag?
Paul ist der Ich-Erzähler, und er berichtet abwechselnd auf zwei Zeitebenen aus seinem Leben: In der Romangegenwart sitzt Paul seine Gefängnisstrafe ab, zusammen mit seinem Zellengenossen Patrick Horton, einem Hells Angels-Bandenchef. Im anderen Erzählstrang liefert Paul die Vorgeschichte bis zu jenem Tag, an dem er einmal nicht harmlos und freundlich war.
Freizügige Französin trifft konservativen Dänen
Der eigenwillige Name Paul Hansen erklärt sich durch eine französische Mutter und einen dänischen Vater. Die Spannungen, die die Familie letztlich sprengen, resultieren jedoch nicht aus kulturellen Unterschieden, sondern aus ideologischen: Pauls Mutter, die ein Programmkino betreibt und dort avantgardistische und freizügige Filme zeigt, nimmt wenig Rücksicht auf den eher konservativen Pastoren-Vater und seine Gemeinde. Bald schon sitzen die gesellschaftlichen Debatten der Sechziger- und Siebzigerjahre mit am Küchentisch der Hansens.
"Genau wie die kleinen Kinos erlebten auch die Kirchen ihre letzten schönen Tage. Die Welt befand sich im Wandel, und selbst wenn die großen Umbrüche erst noch bevorstanden, musste mein Vater bereits kämpfen, seine Predigten immer und immer wieder neu schreiben, um ein Publikum zu halten, das eigentlich danach verlangte, andere, weniger konventionelle und autoritäre Formen der Unterhaltung kennenzulernen und auszuprobieren. Um mein zehntes Lebensjahr herum konnte jeder, der ein wenig aufmerksam war, die Scharniere der alten Welt knarzen hören."
Zeitgeschichte von den Sechzigerjahren bis heute
Jean-Paul Dubois erzählt ganz nebenbei viel über die Zeitgeschichte von den 60er-Jahren bis in an die Gegenwart heran. Während die europäischen Gesellschaften im Umbruch sind, kann man in Nordamerika vom Tellerwäscher vom Millionär aufsteigen – und genau so schnell wieder abstürzen. Paul folgt seinem Vater nach Kanada, wo dieser eine ganz eigene verrückte Geschichte erlebt – sie allein wäre einen weiteren Roman wert. Paul arbeitet in Montreal mehr als ein Vierteljahrhundert lang als Hausmeister in einem Apartmentkomplex, zuverlässig, freundlich und zu jeder Tages- und Nachtzeit ansprechbar – nicht nur für Wohnungsreparaturen, sondern auch für seelische. Als er wegen einer Bagatelle seinen Job verliert, rastet er zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben aus. Mit den bekannten Folgen.
Diese Romanebene, auf der Paul seine Lebensgeschichte erzählt, ist durchzogen von einer großen Melancholie. Einer Traurigkeit über das, was war und nicht wiederkehrt, und über die Menschen, die das Schöne zerstören. Da klingt durchaus auch Kapitalismus-Kritik an. Dass die Geschichte nicht ins Rührselige abgleitet, verhindert Dubois mit seiner mal feinen, mal beißenden Ironie.
Motorradrocker mit Ratten-Phobie
Im zweiten Erzählstrang, der im Gefängnis spielt, kommt Dubois' Kunst, das Traurige und das Komische in Balance zu halten, noch stärker zur Geltung. Paul leidet selbstverständlich unter den monotonen Tagen im Gefängnis, der Freiheitsbeschränkung, der fehlenden Intimität. Doch ihm entgeht auch nicht das Komische an der Situation. So schildert er schon mal eine Seite lang den Toilettengang seines Zellengenossen und vergleicht die Verrichtung süffisant mit einem Gottesdienst. Überhaupt ist der Motorradrocker längst nicht so hart gesotten, wie er sich gibt:
"Mitten in der Nacht stieß Patrick Horton einen so heftigen, markerschütternden Schrei aus, dass ich aus dem Bett hochschreckte und zwei Wärter (…) mit Elektroschockgeräten und Schlagstöcken angelaufen kamen, um zu beenden, was sie für einen Gewaltausbruch hielten. ,Ich hab sie gesehen, sie war da, sie lief auf meinem Bauch rum und hat mich angesehen. Ich weiß nicht, ob es eine fette Maus oder eine Ratte war, aber, verdammt, dieses Vieh ist auf mir rumgelaufen. Ich hab sie gesehen, Chef, ich hab sie gesehen. Ich brauche eine andere Zelle, hier kann ich nicht bleiben. Ich halt die Nagetiere nicht aus, echt nicht, das macht mich krank. Ihr müsst was tun, scheiße, ruft den Direktor, egal wen, aber tut was.' Gebannt von dem Schauspiel, einen Mythos zusammenbrechen, einen Bandenbonzen am Boden zu sehen, versuchten die Wärter zu erklären, dass man den Direktor wegen einer Mäusegeschichte nicht wecken kann."
Orientierung an US-amerikanischem Erzählen
Wie Menschen werden, was sie sind, und wie verschieden sie sind – davon erzählt Jean-Paul Dubois in seinen Romanen. Dass er bei uns bisher wenig bekannt war, hat wahrscheinlich mit seiner Erzählweise zu tun: Dubois' Bücher wirken geradezu "unfranzösisch", wenig sprachspielerisch, sie kommen ohne formale Experimente aus. Er orientiert sich – nach eigener Aussage – eher an großen US-amerikanischen Erzählern wie John Updike oder Philip Roth. Dazu kommt, dass Dubois auch als Person zurückhaltend ist und die Öffentlichkeit scheut.
Seinem Roman "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise" ist jedenfalls nun auch bei uns eine große Öffentlichkeit zu wünschen. Denn Jean-Paul Dubois erzählt darin von einem, der allen Widrigkeiten zum Trotz immer ein Menschenfreund bleibt. Und das ist gerade in diesen konfliktreichen Zeiten sehr wohltuend.
Jean-Paul Dubois: "Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise"
aus dem Französischen von Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver
dtv, München, 256 Seiten, 22 Euro
ungekürzte Lesung mit Torben Kessler
Der Audio Verlag, Berlin, 6 CDs, 7h18 min, 22 Euro