Belarus - Texte und Stimmen (3/7)
„Ich sah plötzlich ganz andere Menschen.“
Swetlana Alexijewitsch im Gespräch
mit Ganna Maria Braungardt nach Fragen von Christine Vescoli
(Teil 4 am 27.12.2020)
Eigentlich war die belarussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch eingeladen bei den Literaturtagen in Lana im August 2020, die seit vielen Jahren der Gedächtniskultur und damit zusammenhängenden Fragen des literarischen Schaffens nachgehen. Doch es kam nicht zu einer Reise von Minsk nach Südtirol. Stattdessen aber zu einem intensiven Gespräch der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch über ihre Arbeit per Videokonferenz.
„Gestern gab es eine Demonstration. Wir wollen, dass unser Diktator geht, und weil wir das auf friedlichem Weg erreichen wollen, damit keine jungen Menschen sterben, denn sie sterben immer als erste, deshalb gab es gestern bei uns eine Demonstration, wie in den letzten Tagen. Sie hatten Kinder dabei, die Frauen trugen weiße Kleider, viele Männer weiße Hemden, viele hatten Blumen in der Hand, davor waren ja schon Frauen in weißen Kleidern und mit Blumen durch die Stadt gezogen. Als ich diese Menschen sah, dachte ich, dass ich früher geglaubt hatte, die Menschen seien Sklaven, unfähig, sich aus ihrer Gefangenschaft, der totalitären Psychologie zu befreien, doch nun sah ich: Wir brauchten einfach 30 Jahre, um ganz andere Menschen zu entdecken.“ Swetlana Alexijewitsch im August 2020 über den Wandel im Bewusstsein der Menschen in Belarus.
Swetlana Alexijewitsch, 1948 in der Ukraine geboren und in Weißrussland aufgewachsen, arbeitete als Reporterin. Über die Interviews, die sie dabei führte, fand sie zu einer eigenen literarischen Gattung, dem dokumentarischen „Roman in Stimmen". Alexijewitschs Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, und sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem National Book Critics Circle Award (2006), dem polnischen Ryszard-Kapuściński-Preis (2011), dem mitteleuropäischen Literaturpreis Angelus (2011). 2015 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur.