Selbstverständliche Selbsttötung
Tragik und Tabu des Suizids
Von Jean-Pierre Wils
Ende Februar 2020 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden: Der Suizid ist ein Akt autonomer Selbstbestimmung. Dass es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben gibt, ist aber keineswegs evident, sondern erläuterungsbedürftig. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26.2.2020 gilt vielen als ultimativer Akt der Emanzipation: Der Staat hat sicherzustellen, "dass dem Recht des Einzelnen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, hinreichend Raum zur Entfaltung und Umsetzung verbleibt", so lassen die RichterInnen verlauten. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst also ein Recht auf Sterben. Dieses Urteil war überfällig, sein liberaler Impuls ist ein Segen für Menschen, die an unheilbaren Krankheiten mit großen Schmerzen leiden. Dennoch gibt es Irritationen. Ist die Berufung auf die "Autonomie" nicht fehl am Platz oder zumindest ergänzungsbedürftig? Die Tragik, die dem Selbstmord auch oft innewohnt, rückt zur Zeit gänzlich in den Hintergrund. Ist der Suizid tatsächlich, wie Thomas Macho es formuliert, eine "emanzipatorische Selbsttechnik"? Schon länger ist davon die Rede, wir lebten in einer Gesellschaft, die vom Suizid fasziniert sei. Die Antike betrachtete ihn als eine Heldentat "in extremis", das Christentum als Todsünde, die Moderne als Pathologie, unsere Gegenwart zunehmend als eine Normalität, als eine rationale Entscheidung - jedenfalls am Ende des Lebens. Bereits Friedrich Nietzsche hatte die Selbsttötung "vernünftig" genannt. Es hat den Anschein, als sei nun eines der letzten Tabus geschleift. Jean-Pierre Wils meldet Zweifel an.
Jean-Pierre Wils studierte in Leuven und Tübingen und lehrt an der Universität Nijmegen Philosophie. Zuletzt erschien von ihm: „Das Nachleben der Toten. Philosophie auf der Grenze" (Verlag Mentis, 2019).