Die Seelen eines Migranten
Eine Lange Nacht mit dem Erzähler Michael Ondaatje
Von Dietrich Leube
Regie: Stefan Hilsbecher
Das Fragment, das Undefinierbare und das Mehrdeutige sind wesentliche Merkmale moderner Kunst. In der Literatur hat kaum jemand diese Zeichen der Zeit so klar gesehen wie Michael Ondaatje, der kanadische Schriftsteller holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung. In seinen Prosawerken gibt es weder zusammenhängende Abläufe, noch klare Perspektiven. Erinnerungen sind lückenhaft. Bruchstücke von Schicksalen werden zu Collagen montiert, Exkurse über absonderliche Themen, Gedichte, Briefe, Aphorismen, Reportagen, dramatische filmartige Szenen eingeschoben. Manchmal verknüpfen sich diese Elemente zu einer Handlung, dann wieder bleiben sie der Spekulation des Lesers überlassen. Doch so zufällig, wie sich die Figuren der Geschichten zu begegnen scheinen, um dann aus dem Blickfeld des Lesers zu verschwinden, so überraschend können sie auch wieder auftauchen. Nicht von ungefähr sind viele Protagonisten Migranten wie der Autor selbst: die Krankenschwester oder der ungarische Spion in ,Der englische Patient', die heldenhaften Arbeiter im Roman ,In der Haut eines Löwen', die sich am Aufbau Torontos beteiligen, oder das Trio der Waisen in ,Divisadero'. „Ich habe eine große Schwäche für Promenadenmischungen“, hat Ondaatje einmal in einem Interview bekannt.