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Prosaische Lyrik

Sieben Jahre sind vergangen, seit W.G. Sebald, auf dem Höhepunkt seines Ruhmes, bei einem Autounfall ums Leben kam. Sieben Jahre, die keineswegs dazu geführt haben, dass sein Werk allmählich der Vergessenheit überführt worden wäre. Ganz im Gegenteil: Sein Stern strahlt heller denn je. Mit "Über das Land und das Wasser" erscheint nun ein Nachlassband mit Gedichten des Prosa-Spezialisten.

Von Tobias Lehmkuhl | 21.01.2009
    " Schwer zu verstehen
    ist nämlich die Landschaft,
    wenn du im D-Zug von dahin
    nach dorthin vorbeifährst,
    während sie stumm
    dein Verschwinden betrachtet "

    Man könnte meinen, dass in diesem allerersten Gedicht aus "Über das Land und das Wasser" schon der ganze Sebald drinsteckt: Der Hang zur etwas umständlich anmutenden Satzkonstruktion, der Hauch Melancholie, die stille Komik. Aber ganz so ist es dann doch nicht. Bei genauerem Hinsehen wirken die Verse aus den frühen sechziger Jahren - allein für sich genommen und allemal im Vergleich zu den großen Prosaperioden der späteren Werke - recht dürftig. "Schullatein" ist diese erste Abteilung aus dem von Sven Meyer besorgten Nachlassband überschrieben, und tatsächlich hat es der Leser hier eher mit Fingerübungen zu tun, tastenden Versuchen eines Schriftstellers, der erst mit Mitte Vierzig seinen Ton finden sollte. Auch die zweite Abteilung des Bandes wirkt recht disparat: Mythische Stoffe klingen an, historische Figuren treten auf, Landschaften werden evoziert. Einen roten Faden gibt es nicht. Gerne allerdings spielt Sebald mit literarischen Referenzen. So tritt in Holkham Gap, einem Gedicht auf die Küste von Norfolk, Onkel Toby auf, die heimliche Hauptfigur aus Lawrence Sternes "Tristram Shandy".

    " Holkham Gap

    Grüne Gegend
    für Feldstecher
    und tarnfarbene
    Ornithologen

    Dahinter die Bucht
    ein Bogen noch weiter
    als der äußerste
    Horizont

    Hier hat die Heimwehr
    auf das Auftauchen
    des Seelöwen
    gewartet

    Als das Ungetüm ausblieb
    durfte der Strandhafer
    die befestigten Streifen
    wieder erobern

    Doch Onkel Toby
    mag dem Frieden
    nicht trauen

    Füllt sein Kopfpolster
    mit Sand und wünscht sich
    die Flut möge kommen "

    So unentschieden Sebald sich thematisch gibt, so bescheiden bleibt er in formaler Hinsicht; der Zeilenfall passt sich ungefähr dem Sprachrhythmus an, recht wohlgefällig plätschert das ganze so dahin. Man merkt aber schon hier, schon in den siebziger Jahren, dass Sebald eigentlich ein Prosaautor ist, einer mit viel Rhythmusgefühl zwar, aber einer, der die lange Strecke bevorzugt, der Zeit braucht, um auszuholen. Ein paar Verse unter Hochspannung zu setzen war Sebalds Sache nicht; er ließ die Dinge lieber langsam anschwellen, absatzlos und immer wieder zurückgreifend, gleichsam in der eigenen Erinnerung wühlend.

    "Mein Medium ist die Prosa, nicht der Roman", bekannte Sebald einmal selbst, und erwähnte die Lyrik dabei erst gar nicht. So versammelt "Über das Land und das Wasser" vor allem Gelegenheitsgedichte, denen man häufig anmerkt, wie sie nebenbei, in den Wartesälen und Hotelzimmern der Welt entstanden sind. Das gilt besonders für die dritte und letzte Abteilung des Buches. Hier sieht man den Erfolgsautor, wie er durch die Lande reist, einmal sogar noch Marienbad. Von Goethes Gedicht borgt er sich sogleich den Titel, und alsbald wandert er weiter, die Spuren der eigenen Prosa auch streifend, zur Begegnung mit Chopin, Kafka oder bloß nach Osnabrück und Oldenburg.

    " In der schlaflos

    verbrachten Nacht
    auf Sonntag den 16.
    Januar vorigen Jahres
    fielen in dem schauder
    haft rustikalen Hotel
    Columbus in Bremer
    haven mit großem
    Gekreisch die vier
    Stadtmusikanten
    über mich her. Den
    Schrecken noch in
    den Gliedern saß
    ich Glock acht allein
    beim Morgenkaffee
    gelbsüchtig von dem
    durch die Butzen
    scheiben in die Gast
    stube dringenden
    Licht. Draußen auf
    dem regennassen
    Kopfsteinpflaster
    zogen die Schatten der
    Auswanderer vorbei
    mit ihren Bündeln
    & Packen Leute aus
    Kaunas & Bromberg
    aus dem Hundsrück
    & aus der Oberpfalz.
    Aus dem Lautsprecher
    leise noch immer
    dasselbe Schiffer
    klavier dieselbe
    vor Rührung bebende
    Männerstimme vergeßne
    Wörter aus unserer Volks
    poesie Heimatstern &
    Seemannsherz. Später
    vom Zug aus der Pulver
    turm aus der Nibelungen
    zeit Kaffeesilos quader
    förmige Horte des
    braunen Goldes am
    Horizont eine Trabanten
    stadt davor eine Kolonie
    Schrebergärten die dereinst
    vielleicht Roseneck
    hießen Samoa oder
    Burenland. Und jetzt
    über der norddeutschen
    Tiefebene unbeweglich
    seit Wochen niedrige
    blauschwarze Wolken
    die Weser über die Ufer
    getreten & irgendwo
    in der Gegend von
    Osnabrück oder
    Oldenburg auf einem
    Grasplatz vor einem
    Gehöft eine einsame
    Gans die langsam
    den Hals wendet als
    sie den Intercity
    vorbeirauschen sieht. "


    W.G. Sebald: Über das Land und das Wasser
    Herausgegeben von Sven Meyer. Carl Hanser Verlag, München 2008. 120 Seiten, 14,90 Euro