Freitag, 29. März 2024

Archiv


Protest gegen den Tod

Ernst Augustin ist einer der großen Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Er hat als Arzt und Psychiater gearbeitet und er hat Romane und Erzählungen geschrieben, wenige, aber gute. Es sind ausschweifende Texte, in denen Medizin und Psychologie immer wieder eine Rolle spielen. Zu Augustins 80. Geburtstag ist bei C. H. Beck jetzt eine achtbändige Ausgabe seiner Werke erschienen.

Von Matthias Kußmann | 31.10.2007
    Eigentlich ist das gesamte Werk von Ernst Augustin ein Protest gegen den Tod. Der gelernte Arzt, der ja Leben retten, Krankheiten heilen will, tut es als Autor auf seine Art. Ein Protest mit den Mitteln der Phantasie, besonders deutlich im Roman "Der amerikanische Traum" von 1989. Ende des Zweiten Weltkriegs wird ein Mecklenburger Junge von einem amerikanischen Tiefflieger getötet. In den Sekunden zwischen Leben und Tod läuft nicht, wie oft gehört, sein Leben vor seinem inneren Auge ab. Im Gegenteil: Er denkt an die Geschichten, die er gelesen hat, und träumt sich ein neues Leben: als Privatdetektiv Hawk Steen in Amerika - und das erzählt dann der Roman. Der ist, wie die anderen Bücher Augustins, elegant geschrieben; und zugleich voller Witz, absurder Geschichten, schräger Figuren. Raum und Zeit werden nach Belieben außer Kraft gesetzt: ein Fest der Phantasie.

    "Im Grunde meines Herzens bin ich eigentlich ein Romantiker. Ich liebe es, eine gewisse bizarre Form hineinzubringen. Ich fühle mich zum Beispiel verwandt mit Jean Paul. Der ist - obwohl er nun wirklich woanders angesiedelt ist - nach meinem Herzen. Ich liebe das Spiel, ich liebe das Spielerische im Ernsten, und dann passen natürlich solche bizarren und verschrobenen Figuren da hinein."

    Augustin ist einer der wenigen Autoren, deren Prosa man erkennt, wenn man ein, zwei Seiten liest: eigener Gestus, eigene Sprache, eigener Humor. Doch obwohl seine Bücher bestens lesbar sind und meist gute Kritiken bekommen, ist er ein Geheimtipp geblieben. Vielleicht, weil immer etliche Jahre vergehen, bis ein neuer Roman von ihm erscheint, und der Literaturbetrieb ein kurzes Gedächtnis hat; vielleicht auch, weil er sich von diesem Betrieb fernhält:

    "Mich interessiert der ganze Kulturbetrieb nicht! Das ist wahrscheinlich falsch, denn wir leben ja im Zeitalter der Medien und das ist was, was auch ein Eigenleben und ein Eigengewicht hat. Aber: Es interessiert mich nicht, ich leb da nicht. Ich möchte gerne schreiben, ich schreibe wirklich mit Leidenschaft und arbeite gerne. Ich lasse mir zwar viel Zeit und habe deshalb auch nur wenig geschrieben, aber ich bin richtig glücklich."

    Nur einmal stand Augustin vor dem Durchbruch. 1967 in Princeton, bei der Tagung der "Gruppe 47", las er aus seinem Roman "Mamma". Alle waren begeistert - bis ihm sein Kollege Peter Handke die Schau stahl:

    "Das ging bis mittags. Und am Nachmittag, da kam Handke. Er las einen relativ belanglosen Text, ich glaub "Hornissen", so ähnlich hieß es. Es war nicht besonders, war so ein "Text", was man so als "Text" bezeichnet, es war mit allen Finessen gemacht, aber eigentlich langweilig. Und der wurde dem entsprechend auch fertiggemacht. Bis er den Mund aufmachte, das war nämlich streng verboten. Wir mussten auf unserem Sessel sitzen als Verurteilte und durften uns selbst nicht äußern. Aber Handke: das war sein Programm! Handke, mit dem ich mich übrigens vorher angefreundet hatte, der fiel über die Kritiker her, so was gab es überhaupt nicht! Er fiel über die Kritiker her und die haben sich auch heftig beschwert, aber damit wurde er der Star! Und von mir sprach kein Mensch mehr. Und mein großer Ruhm, der nur bis mittags ging, war beendet."

    Ernst Augustin wurde am 31. Oktober 1927 im heute polnischen Hirschberg geboren. Er studierte Medizin in Rostock, arbeitete an der Berliner Charité. Von Anfang an wollte er weg aus der DDR, bis er 1958 das sensationelle Angebot bekam, als Arzt nach Afghanistan zu gehen. Die Jahre dort prägten ihn tief und bestärkten seinen Zweifel an der westlichen Medizin. 1962 ließ er sich in München als Psychiater nieder. Im selben Jahr erschien sein Roman-Debüt "Der Kopf", danach acht weitere Romane und ein paar Erzählungen - in denen es, naturgemäß, oft um Medizin und Psychologie geht. Augustin ist, obwohl er aus dem Osten stammt, ein "West-Autor". Seinen ersten Roman aber schrieb er in der DDR:

    " Das Komische ist, dass ich bereits 1953/54/55 einen Roman geschrieben habe, und zwar in der DDR, einen surrealistischen Roman. Ich hab damals zum ersten Mal Kafka gelesen und mich hat das so beeindruckt: Wenn man morgens aufwacht diese völlige Veränderung, etwas ist geschehen... Und ich hab - das ist wirklich komisch -, ich hab von einer Mauer geträumt! Morgens war eine Mauer gezogen und ich konnte nicht mehr zur Arbeit. Also genau das, was später passiert ist, hab ich geschrieben!"

    Ein Roman über die Mauer, noch bevor es sie gab! Was ist daraus geworden?

    "Gar nichts, der liegt jetzt noch da, unveröffentlicht. Das wäre ein Unikum, bloß: Es glaubt mir ja keiner! Wenn ich sage, den hab ich damals schon geschrieben: Es kann sein, es muss aber nicht sein, ich kann es nicht beweisen... Außerdem ist er nicht gut genug, ich müsste ihn noch mal schreiben."

    Zu Augustins eindrücklichsten Texten gehört der Roman "Raumlicht" von 1976. Er erzählt von der unkonventionellen Heilung einer Schizophrenen - und parallel dazu, deutlich autobiografisch, die Geschichte eines Arztes. Das Buch zeigt mit seiner harschen Psychiatrie-Kritik die ernste, engagierte Seite des Autors. In "Eastend" (1982) attackiert er die damals grassierende Therapie-Mode. Es geht um den Psychologen Almund Grau, der erfolgreich ist und glücklich verheiratet. Bis ihn seine Frau überredet, mit ihr an einer Gruppentherapie teilzunehmen. Von da an geht's bergab. Grau verliert Frau und Praxis und findet sich nach Irrungen und Wirrungen schließlich in London wieder, wo er einen Neuanfang versucht. Mit hinreißender Komik beschreibt der Autor die Gruppensitzungen, karikiert den Therapiejargon und entlarvt die Gruppen-Mitglieder als eitle Selbstdarsteller. - Wenn Augustin auf sein Werk zurückblickt, ist er nicht unzufrieden. Aber manchmal denkt er, er hätte schreiben wollen wie Thomas Mann:

    "Mein leidenschaftlich geliebtes Werk ist der "Joseph" von Thomas Mann. Den liebe ich nun wirklich, und zwar gerade, weil er eigentlich nicht lesbar ist, er ist so lang und so ungeheuerlich... Jedes mal wenn ich anfange - ich lese das Ding zu Ende! Das ist eigentlich das, was ich immer angestrebt habe und nie schaffe: richtig erzählen, eine große, breite Erzählung. Und zwar etwas so zu erzählen, dass man genau weiß, was da passiert - und trotzdem fasziniert ist."
    Nichts gegen Thomas Mann, aber es ist doch gut, dass Augustin schreibt wie Augustin. Zu seinem 80. Geburtstag erschien jetzt "Schönes Abendland", eine veränderte Neuausgabe des Romans "Mamma" - und die zeigt den Autor auf der Höhe seines Könnens. In drei Teilen werden drei Schelmenromane erzählt, die Lebens- und Todesgeschichten von Drillingen: im Ganzen ein literarisch-geistiger Parforceritt durch die Jahrhunderte - und ein sprachmächtiger Abgesang auf sogenannte "abendländische Werte". Vielleicht wird Augustin ja mit dieser Fassung des Romans bekannt, mit dem ihm der Durchbruch bei der Gruppe 47 versagt blieb. Zu wünschen wäre es ihm. Und für alle, die den "ganzen Augustin" wollen: Der C.H. Beck-Verlag hat eine günstige, aber schön gemachte "Jubiläums-Ausgabe" vorgelegt. Acht Bände Romane und Erzählungen in Kassette - ein opulentes Lesevergnügen.

    Ernst Augustin: Schönes Abendland. Roman. 436 Seiten, 22,90 Euro.

    Ders.: Romane und Erzählungen. 8 Bände. Ca. 2500 Seiten, 78 Euro.

    Ders.: Goldene Zeiten. Hörbuch. 14,95 Euro. - Alle C. H. Beck Verlag, München.