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Protest gegen Regierung
Indiens Literaten rebellieren gegen Intoleranz

Mehr als 40 indische Schriftsteller haben ihre Preise an die renommierteste Literatur-Akademie des Landes zurückgegeben – aus Protest gegen die konservative Regierung von Narendra Modi. Regierungsvertreter sprechen von einer politisch motivierten Schmierkampagne.

Von Sandra Petersmann | 23.10.2015
    Die indische Autorin Nayantara Sahgal.
    Die indische Autorin Nayantara Sahgal: "Es geht um Hass auf Andersdenkende." (Deutschlandradio / Sandra Petersmann)
    Es ist der bisher schärfste und lauteste Protest gegen die Regierung von Premierminister Narendra Modi, der seit Mai 2014 im Amt ist. Die weltbekannte Autorin Nayantara Sahgal war unter den ersten rebellischen Autoren, die den begehrtesten Literaturpreis Indiens an die nationale Sahitya-Akademie zurückgaben, um ein Zeichen zu setzen.
    "Es geht hier um viel mehr als um wachsende Intoleranz. Es geht um Hass auf Andersdenkende", erklärt sie im Interview mit dem ARD-Hörfunkstudio Südasien.
    "Wir erleben eine wachsende Welle des Hasses auf Andersdenkende, weil die Regierung es erlaubt. Meine größte Angst ist, dass immer mehr Menschen in Indien in Angst leben."
    Der eiserne Vorhang
    Nayantara Sahgal ist die Nichte von Indiens Staatsgründer Nehru. Sie wuchs mit den Idealen von Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi auf, der in ihrem Elternhaus ein- und ausging. Sie brach später öffentlich mit ihrer Cousine Indira Gandhi, als die eiserne Lady Indiens das Land als Premierministerin mit brutalen Notstandsgesetzen regierte.
    Heute ist Nayantara Sahgal 88 Jahre alt. Die Autorin des Romans "Die Memsahib" beschuldigt die Regierung von Narendra Modi, das multikulturelle Indien, für das ihre Familie gekämpft hat, in einen religiösen Hindu-Staat verwandeln zu wollen.
    "Dieses eingleisige Gedankengut eines Hindu-Staates wird allen anderen aufgezwungen. Du darfst kein Rindfleisch essen, du darfst dies nicht, du darfst das nicht. Wir werden erstickt. Es fühlt sich für mich so an, als würde sich ein eiserner Vorhang auf die Freiheit des Denkens legen."
    "Hindus verwandeln sich in Dschihadisten"
    Der Protest der rebellierenden Schriftsteller begann Ende August, als Attentäter einen bekannten religionskritischen Wissenschaftler und Publizisten ermordeten. Sie streckten ihn in seinem eigenen Haus nieder. Malleshapa Kalburgi hatte sich kritisch mit der Götzenverehrung im Hinduismus auseinandergesetzt.
    Aus Regierungskreisen gab es nach diesem Mord keinen lauten Aufschrei, auch die nationale Literaturakademie blieb zunächst still. Der Protest der Literaten dehnte sich aus, als Ende September ein muslimischer Schmied von einem wütenden Hindu-Mob in einem Dorf in der Nähe der Hauptstadt Neu-Delhi zu Tode geschlagen wurde - weil er fälschlicherweise beschuldigt wurde, Rindfleisch gegessen zu haben.
    Kühe sind für gläubige Hindus heilige Tiere, die nicht geschlachtet werden dürfen. Die konservativ-religiöse Hindu-Partei BJP von Premierminister Narendra Modi diskutiert zurzeit offen über ein nationales Schlachtverbot. Die rebellierenden Schriftsteller um Nayantara Sahgal sprechen von einem gefährlichen politischen Hinduismus. "Hindus verwandeln sich in Dschihadisten. Darum erhebe ich meine Stimme", sagt sie über ihren Protest. "Der Hinduismus ist keine gewalttätige Religion. Aber die Idee des politischen Hinduismus verwandelt Hindus in Dschihadisten. Und ich sage das als Hindu. Ich bin eine Gläubige, keine Atheistin."
    Warum mischt sich das deutsche Radio ein?
    Die Angeklagten reagieren zunehmend gereizt. Das bekam auch das ARD-Studio in Neu-Delhi bei seiner Recherche zu spüren. Auf die Frage, warum die BJP-Regierung den Rindfleisch-Mord am muslimischen Schmied nicht sofort verurteilt hat, um ein klares Zeichen zu setzen, kontert Tarun Vijay mit einer Gegenanschuldigung. Tarun Vijay ist einer der Vordenker der regierenden national-religiösen BJP und sitzt im Oberhaus des indischen Parlaments.
    "Wenn es Leute wie Sie und Ihren Radiosender gibt, die sich jedem nationalistischen Argument verschließen, was sollen wir dann machen? Ich bin sehr erstaunt, dass ein ausländischer Sender wie das deutsche Radio sich mit so viel Hass auf einen Teil der Bevölkerung, den es nicht mag, in Indiens innere Angelegenheiten einmischt."
    Die Wahrheit schlachten
    Auf nochmalige Nachfrage verschärft er seine Gegenanschuldigung:
    "Einige Menschen schlachten Kühe, um einen Teil der Hindus zu provozieren. Andere schlachten die Wahrheit, um Menschen zu verleumden, die ihnen nicht gefallen."
    Für Tarun Vijay ist der Protest der Schriftsteller eine geplante Schmierenkampagne linker Aktivisten gegen eine erfolgreiche, konservative Regierung, deren Schwerpunkt es sei, Indien wirtschaftlich und gesellschaftlich zu entwickeln. Kritische Fragen empfindet er als voreingenommene, linke Propaganda.
    Der indische Politiker Tarun Vijay.
    Der indische Politiker Tarun Vijay. (Tarun Vijay)
    Der BJP-Vordenker wirft den Autoren vor, die Drecksarbeit für die abgewählte Kongress-Partei der berühmten Nehru-Gandhi-Dynastie zu erledigen. "Keiner von uns hat die Morde gutgeheißen. Die Rückgabe der Preise ist ein billiger politischer Trick", erklärt er.
    Vijay wirft den rebellierenden Literaten eine selektive Wahrnehmung vor: "Diese Schriftsteller sind still, wenn unsere Soldaten in Kaschmir von Dschihadisten ermordet werden. Sie schweigen, wenn unsere Soldaten, Lehrer und Bauern von linksextremistischen Rebellen brutal ermordet werden. Dann gibt keiner seine Preise zurück. Diese Literaten entlarven sich selber." Die Schriftsteller seien nicht empfänglich für den "wahren Schmerz, der unserer Bevölkerung durch Islamisten und Linksextremisten zugefügt wird."
    Säkulares Indien oder Hindu-Staat?
    Indien ist ein säkularer, multireligiöser Staat. Rund 80 Prozent der indischen Bevölkerung sind Hindus. Das Land hat seit seiner Unabhängigkeit mehrfach heftige Ausbrüche von Gewalt erlebt – vor allem zwischen den Religionen. Zwischen Hindus und Sikhs 1984, zwischen Hindus und Muslimen 2002, um nur zwei Beispiele zu nennen.
    Die Ereignisse der vergangenen Wochen sind nicht wegzudiskutieren: ein religionskritischer Vordenker ist tot. Die Debatte um ein Schlachtverbot für Kühe hat zu tödlicher Gewalt gegen Muslime geführt. Radikale Hindus hetzten auch gegen Kunst und Künstler. Vieles deutet darauf hin, dass sie sich ermutigt fühlen.
    Entwicklung und Fortschritt
    Premierminister Modi zieht es vor zu schweigen. Zum Lynchmord am muslimischen Hufschmied durch einen rasenden Hindu-Mob am 28. September äußerte er sich zum ersten Mal am 9. Oktober, als seine Regierung immer stärker unter Druck geriet. "Hindus müssen sich entscheiden, ob sie gegen Muslime oder gegen Armut kämpfen wollen. Muslime müssen sich entscheiden, ob sie gegen Hindus oder Armut kämpfen wollen", sagte Modi. Er vermied jede Schuldzuweisung.
    Die Rebellion der Autoren lässt er von seinem mächtigsten Minister Arun Jaitley kommentieren. Indiens Finanzminister spricht, wie sein Parteifreund Tarun Vijay, von einer "selektiven Wahrnehmung" linker Aktivisten, um mit einer "fabrizierten Krise" für Unruhe zu sorgen. Den Mord am Schmied bezeichnete er als "äußerst unglücklich und verdammenswert".
    Indiens Premierminister spricht meistens über Entwicklung und Fortschritt. Bei seiner jüngsten USA-Reise hat er sich als Vorreiter eines modernen, digitalen Indien inszeniert. Zu Hause vermeidet er jede öffentliche Stellungnahmen über die Trennung zwischen Politik, Staat und Religion. Doch der öffentliche Protest der Literaten setzt seine Regierung unter Druck, Stellung zu beziehen.