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Protest tükischer Wissenschafler
Angriff auf die akademische Freiheit

2200 Akademiker haben 2016 in der Türkei eine Petition für den Frieden unterzeichnet. Füsün Üstel ist die erste Professorin, die jetzt dafür ins Gefängnis muss. Türkische, deutsche und französische Wissenschaftler protestieren deshalb in Berlin gegen die Urteile – und für die akademische Freiheit.

Von Anja Nehls | 19.03.2019
Wegweiser zur Universität und zum Universitätsklinikum in Istanbul, aufgenommen am 31.12.2006.
Die Folgen der Petition: Hunderte Wissenschaftler wurden entlassen und angeklagt. Hunderte sind bereits ins Ausland geflohen (dpa/Lars Halbauer)
Der Angriff auf die akademische Freiheit in der Türkei erreicht einen neuen Höhepunkt. Die Türkei beginnt, die Akademikerinnen für den Frieden einzusperren, die den Frieden und die akademische Freiheit verteidigt haben.
Und dagegen protestierten heute morgen knapp drei Dutzend Wissenschaftlerinnen - hauptsächlich aus der Türkei, aber auch aus Deutschland und Frankreich. Von über 2200 türkischen Akademikern, die 2016 in der Türkei eine Petition für den Frieden unterschrieben haben, ist Füsün Üstel nun die erste, die deswegen ins Gefängnis muss:
"Professorin Üstel ist eine bekannte Akademikerin auf dem Gebiet der Staatsbürgerschaftsstudien und der Kulturwissenschaften. Sie auch eine Verfechterin der akademischen Freiheit in der Türkei."
650 Unterzeichner vor Gericht
Die Friedenspetition unter dem Motto: "Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein" - richtete sich gegen die Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Regionen des Landes. Bereits als die Petition veröffentlicht wurde, verkündete Präsident Erdogan, dass die Unterzeichnenden "dafür bezahlen" müssten. Seitdem kamen 650 der Unterzeichner vor Gericht, 137 sind mittlerweile verurteilt. Die meisten Urteile sind allerdings noch nicht rechtskräftig. Über 500 Wissenschaftler wurden von ihren Universitäten entlassen, in den Ruhestand versetzt oder zum Rücktritt genötigt. Hunderte haben die Türkei vorsichthalber verlassen. Aysuda Kölemen hat in Istanbul Politikwissenschaften gelehrt, erzählt ihr Ehemann Till Luge. Nach der Unterschrift unter die Petition habe sie nicht mehr arbeiten dürfen. Seit Mitte 2017 sind beide deshalb in Berlin – und trauen sich nicht mehr, in die Türkei zurückzukehren:
"Ich habe in Istanbul am Orient Institut gearbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter und wir sind dann gemeinsam, als das für sie zu gefährlich wurde, ausgereist. Wir haben keine Zukunft. Jetzt dürfen wir einreisen – ob man wieder rauskommt, ist die Frage."
Stipendien für gefährdete Forscher
Inzwischen ist Aysuda Kölemen in der Türkei zu einer Gefängnisstrafe von 27 Monaten verurteilt worden. Die Entscheidung des Berufungsgerichts steht noch aus – sehr optimistisch ist sie diesbezüglich allerdings nicht. Über die Philipp Schwartz-Initiative hat Aysuda Kölemen inzwischen ein Stipendium, um am Bard College in Berlin erstmal zu arbeiten. Mit Geld vom Auswärtigen Amt und verschiedenen Stiftungen erhalten Hochschulen in Deutschland dabei die Möglichkeit, gefährdete Forschende für 24 Monate aufzunehmen. Auch Ulaş Şener, Ökonom und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Potsdam hat Freunde und Kollegen, die die Türkei inzwischen verlassen haben und denen er helfen möchte:
"Weil viele erstmal hier sind, akademisch sehr hoch ausgebildet sind, aber auch das deutsche Wissenschaftssystem bringt sehr viele Hürden, die versuchen wir gemeinsam zu meistern."
"Dramatisches Signal"
Es geht darum, auf die Situation der Akademiker in der Türkei aufmerksam zu machen. Dazu müssten sich die Hochschulen in Europa vernetzen, sagt Matthias Schneider, Vizepräsident der Universität Straßburg und heute Morgen in Berlin der Vertreter der französischen Universitäten:
"In Frankreich ist das ein sehr diskutiertes Thema, die akademische Freiheit. Wir haben auch in Frankreich viele türkische Kollegen, die in französischen Universitäten empfangen werden. Also wir stehen alle für akademische Freiheit und es ist auch wichtig, dass nicht nur Franzosen alleine sprechen, aber auch mit Deutschen, mit Europäern zusammen, weil wir jetzt in größter Gefahr stehen in der akademischen Welt, wenn noch mehr Länder die akademische Freiheit verneinen."
Bei 100 der verurteilten Wissenschaftler wurde das Strafmaß in der Türkei zu fünf Jahren auf Bewährung ausgesetzt. Dass Professorin Füsün Üstel nun als erste tatsächlich eine Haftstrafe antreten muss, sei ein dramatisches Signal.