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Protestantische Reformation für die wissenschaftliche Revolution

Der Historiker Niall Ferguson ist eine Leitfigur konservativer Geschichtsschreibung: Der Erste Weltkrieg, die Rothschilds, Aufstieg und Fall von Imperien und die Geschichte des Geldes sind Themen seiner Bücher. Jetzt macht Ferguson die Angst vor den Chinesen zu seinem Thema. Und bietet dazu ein neues Buch.

Von Christoph Fleischmann | 06.02.2012
    Es ist durchaus erfrischend, wenn sich ein Historiker einmal traut, die großen Fragen zu stellen - und auch zu beantworten, wenigstens in groben Zügen. Niall Ferguson ist so ein Historiker:

    "Dies ist ein Werk über die Weltgeschichte, das die in vielerlei Hinsicht größte Frage der letzten 500 Jahre beantworten soll: Warum konnte eine Minderheit - nämlich die Menschen, die in Europa und ihren Kolonien lebten - so viel reicher, gesünder und mächtiger werden als irgendjemand sonst?"

    Warum hat das wirtschaftlich-politisch-kulturelle Modell, also die Zivilisation, die sich im Europa der Neuzeit entwickelte, einen beispiellosen Siegeszug um die Welt angetreten? Um die Bedeutung dieser Frage zu unterstreichen, schaut Ferguson immer wieder gen Osten: China war um das Jahr 1500 viel weiter entwickelt, mächtiger und stabiler als Europa - und insofern also viel eher der passende Kandidat, um die Welt nach seinem Bilde zu gestalten. Warum aber gelang dies Europa? Niall Ferguson:

    "Einige Leute würden sagen: Oh, das war das Wetter oder die Geografie, also die natürlichen Ressourcen. Wieder andere würden sagen: weil der Westen diese ausbeuterischen Imperien hatte, die die anderen an der Peripherie abgezockt haben. Aber keine dieser Erklärungen ist wirklich stichhaltig. Die Gründe für das große Auseinanderdriften waren viel komplizierter und viel mehr mit Institutionen verbunden, als alle diese Begründungen nahelegen."

    Ferguson findet sechs Institutionen im weitesten Sinne, die den Erfolg des Westens begründet hätten: der Wettbewerb, die Wissenschaft, das Eigentumsrecht, der Massenkonsum, die Medizin und die Arbeitsethik. Die hässlichen Seiten der westlichen Herrschaft - wie Krieg, Ausbeutung und Sklaverei - kommen bei Ferguson auch vor, treten aber gegenüber den von ihm positiv bewerteten sechs Institutionen in den Hintergrund. Niall Ferguson:

    "Wenn man das historisch betrachtet, dann fallen zwei Dinge auf: Die Expansion der westlichen Macht über die Ozeane hatte - wie wir wissen - sehr negative Konsequenzen für indianische Völker; sowohl durch die schnelle Verbreitung von Krankheiten in Amerika, als auch durch die Verwüstungen der westlichen Kriegsführung. Aber es war nicht alles schlecht: Ich versuche im Buch zu zeigen, wie die westlichen Imperien die Lebenserwartung erhöht haben, sobald sie die Gründe für Tropenkrankheiten verstanden hatten: Selbst in den afrikanischen Kolonien kann man eine große Verbesserung feststellen von 1900 bis zum Ende der Kolonialherrschaft. Der andere kritische Punkt, der von linken oder marxistischen Geschichtsdarstellungen meist nicht genannt wird, ist der, dass ein Großteil des Wachstums in der Industriellen Revolution in Großbritannien, USA und auch Deutschland endogen war, also nicht durch die Ausbeutung der Peripherie bedingt war."

    Solche Einschätzungen sind angreifbar: Man denke nur daran, dass Großbritannien seiner Kolonie Indien verbot, Baumwolle zu verarbeiten, um der britischen Textilindustrie die Konkurrenz vom Leibe zu halten. Aber Fergusons Lust zuzuspitzen und gegen den Stachel zu löcken, gebiert durchaus auch Originelles: Die alte These von Max Weber, wonach die Arbeitsethik der Calvinisten den Aufstieg des Kapitalismus maßgeblich begünstigt habe, schreibt Ferguson reizvoll um:

    "Die protestantische Reformation ist in der Tat eine notwendige Voraussetzung für die wissenschaftliche Revolution, denn der Protestantismus hat die Alphabetisierungsrate signifikant erhöht und das Druckwesen als neuen Weg der Kommunikation gefördert. Und wenn man mal ein Volk hat, das alphabetisiert ist und Bibeln lesen kann, dann können die alles Gedruckte lesen. Die Transformation des öffentlichen Lebens in Europa wurde durch die Reformation möglich gemacht. Und die Verbreitung des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert durch die Missionsgesellschaften überall auf der Welt hat auch die Alphabetisierung verbreitet. Und es gibt eine enge Verbindung zwischen Alphabetisierung und Verbesserungen in der Produktivität: Es gab also nicht so sehr eine protestantische Arbeitsethik als vielmehr eine protestantische Wortethik."

    Aber Ferguson belässt es nicht bei dieser Pointe. Er will noch mehr von Webers These retten: Die Weber'schen Tugenden Fleiß und Sparsamkeit sieht er ebenfalls als wichtig an. Statt aber die Bedeutung von Sparverhalten für den Aufstieg des Kapitalismus zu erörtern, springt er etwas zu schnell und unvermittelt in die Gegenwart:

    "In den letzten 30 Jahren können wir zwei bedeutende Verhaltensänderung in westlichen Gesellschaften beobachten: Zum einen arbeiten die Leute weniger, das trifft besonders auf Europa zu. Der durchschnittliche Deutsche arbeitet 1000 Stunden im Jahr weniger als der durchschnittliche Koreaner. Aber zum anderen beobachten wir auch den Tod der Sparsamkeit, den anderen Teil der protestantischen Ethik bei Weber. Nach Weber versagte der wahre protestantische Kapitalist sich den Konsum und akkumulierte Kapital durch Sparen. In Nordamerika und der englischsprachigen Welt haben wir vor einiger Zeit damit aufgehört und sind zu einer Form des Kapitalismus übergegangen, der auf Schulden basiert statt auf Ersparnissen oder genauer gesagt auf den Ersparnissen von fremden Leuten, besonders von Chinesen."

    Waren die Schulden der Einen nicht immer schon die Guthaben der Anderen? Nun ist das Haben eben auf chinesischen Konten gutgeschrieben. Und genau da liegt für Ferguson der Hase im Pfeffer: Die Konkurrenz schläft nicht: China habe die meisten westlichen Erfolgsfaktoren längst kopiert. Wenn die Bewohner Westeuropas und Amerikas sich nicht auf ihre alten Werte und Stärken besinnen würden, dann - so meint Ferguson - würden sie ihre Vormachtstellung an China verlieren. So charmant, wie der konservative Historiker Ferguson spricht, so gewinnend kann er schreiben, sein Stil ist fast journalistisch - und das ist selten für einen Akademiker. Man kann das Buch also mit Vergnügen lesen und lernt einiges. Aber viele Zusammenhänge, die er behauptet, vermögen letztlich nicht wirklich zu überzeugen, weil sie zu deutlich einem apologetischen Interesse geschuldet sind: Die Welt soll noch einmal am westlichen Wesen genesen.

    Niall Ferguson
    Der Westen und der Rest der Welt. Die Geschichte vom Wettstreit der Kulturen. Propyläen Verlag, 560 Seiten, 24,99 Euro
    ISBN: 978-3-549-07411-4