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Proteste gegen Bolsonaro
Filmarchiv Brasiliens droht das Aus

Am Welttag des audiovisuellen Erbes protestieren in São Paulo zahllose Kulturschaffende gegen die Regierung Bolsonaro. Ihre Kulturpolitik bedroht die Existenz der Cinemateca Brasileira, des bedeutendsten filmhistorischen Zentrums in Brasilien. Auch die UNESCO fordert eine Lösung.

Von Peter B. Schumann | 27.10.2020
Auf einer Demonstration in Sao Paulo in Brasilien gegen den Präsidenten Jair Bolsonaro halten Demonstranten Plakate hoch
Demonstrationen in Sao Paulo in Brasilien gegen den Präsidenten Jair Bolsonaro (picture alliance / ZUMA Wire / Dario Oliveira)
In einem dramatischen Video alarmierten bereits im Juni zahllose Filmschaffende die Öffentlichkeit über die katastrophale Situation der Cinemateca Brasileira in São Paulo. Zahllose Kinematheken in aller Welt protestierten, denn hier geht es um die Zukunft eines der größten Filmarchive und um Brasiliens audiovisuelles Erbe. Der Filmemacher Francisco Martins in TV Cultura über die Bedeutung der Cinemateca:
"Dort befinden sich außerordentlich wichtige, materielle und immaterielle Schätze: Hunderttausende von Filmrollen, mehr als eine Million Fotos, das ganze brasilianische Kino. Das ist ein Bestand von unkalkulierbarem Wert, das Bildgedächtnis des Landes!"
Filmreife Entmachtung der Kultur
Begonnen hat das Drama 2016 nach dem Sturz der linken Präsidentin Rousseff. Bis dahin war die Cinemateca eine eigenständige Institution, die vom Kulturministerium finanziert wurde. Die rechte Interimsregierung Temer übertrug zwei Jahre später im Zuge ihrer radikalen Privatisierungspolitik die Verwaltung der privaten Bildungseinrichtung ACERP. Der heutige Präsident Bolsonaro ließ dann das Kulturministerium zu einem Sekretariat im Bildungsministerium schrumpfen. Dessen Minister annullierte Ende 2019 vorfristig den Vertrag mit ACERP und strich ihr die Gelder, ohne eine Lösung für die Kinemathek in der Hand zu haben. Seither erhielten die rund vier Dutzend Angestellten keine Entlohnung. Als sie deshalb streikten, wurden sie entlassen. ACERP bestand weiterhin auf der Erfüllung des Vertrags. Da sie die Schlüssel für das Gebäude nicht übergeben wollte, schickte das Kultursekretariat im August die Polizei. Ein filmreifer Vorgang, einzigartig in der bald 70-jährigen Geschichte der Cinemateca Brasileira, die seither geschlossen und einem ungewissen Schicksal überlassen ist. Francisco Martins:
"Das Ganze beruht auf inneren Konflikten zwischen verschiedenen Fraktionen der Regierung, die sich um die Macht in einzelnen Bereichen streiten, ohne Rücksicht auf die prekäre Situation der Kinemathek, unseres Kulturerbes. Die Regierung muss dringend eine Lösung herbeiführen und sie nicht immer weiter hinausschieben, denn was dort lagert, kann jederzeit Feuer fangen."
Bolsonaro sieht "kommunistische Unterwanderung"
Es wäre nicht das erste Mal. Schon einmal ist ein Teil des hochempfindlichen Nitrofilmmaterials in einem Depot der Kinemathek Flammen aufgegangen. Damals war es Unachtsamkeit. Jetzt ist es Teil einer Politik kultureller Verachtung durch die Regierung Bolsonaro. Der Präsident hatte kurz nach seinem Machtantritt der Kultur den Kampf angesagt, da er sie für "kommunistisch unterwandert" hält. In sein erzkonservatives Weltbild passen weder Linke noch Schwule, auch keine Frauenrechte oder alternative Lebensformen und keine Minderheiten, noch nicht einmal die indigene Urbevölkerung, also Themen vieler Kunstwerke.
Eine Personalie erklärt beispielhaft Bolsonaros Filmpolitik. Zur Leiterin des Kultursekretariats ernannte er die von ihm verehrte 73-jährige Telenovela-Actrice Regina Duarte. Nach knapp drei Monaten musste er sie wegen Unfähigkeit aus dem Verkehr ziehen und bot ihr – sozusagen als Entschädigung – die Leitung der Cinemateca an, was er jedoch nicht durchsetzen konnte.
"Wir sind dabei, unser Bildgedächtnis zu verlieren"
An diesem Welttag des audiovisuellen Erbes versuchen zahlreiche Filmschaffende und Intellektuelle erneut, durch öffentlichen Druck die Regierung zu einer Lösung des Skandals zu drängen. Vor wenigen Tagen hat sie die Filmregisseurin Sabrina Fidalgo in der linken Netzzeitung Causa Operaria so beschrieben:
"Die Vorgänge um die Cinemateca Brasileira sind eine Tragödie unvorstellbaren Ausmaßes, denn wir sind dabei, unser Bildgedächtnis zu verlieren. Wenn die Regierung diese Art von Politik fortsetzt, laufen wir Gefahr, in der kulturellen Unterentwicklung zu landen. Nie zuvor haben wir eine derartige Verachtung unserer Kultur erlebt."