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Protestkultur in Deutschland
Abgrenzung statt Austausch

Mit ihnen wurden Diktaturen gestürzt, Grenzen geöffnet und Atomkraft bekämpft: Proteste und Demonstrationen haben in der Geschichte schon einige Steine ins Rollen gebracht. Heute stehen sich oft Demonstranten und Gegendemonstranten gegenüber - und es zeigen sich tiefe Gräben.

Von Justus Wolters | 04.10.2018
    Eine kleine Gruppe Rechter steht in Bamberg hunderten Gegendemonstranten gegenüber
    Eine kleine Gruppe rechter Demonstranten steht in Bamberg hunderten Gegendemonstranten gegenüber (picture alliance/ dpa/ David Ebener)
    Deutsche Flaggen zappeln im Wind. Es regnet, es ist kalt. Der rechtsgerichtete hannoversche Pegida-Ableger Hagida hat unter dem Motto "Merkel muss weg" eine Kundgebung auf dem Opernplatz in Hannover angemeldet. Rund ein Dutzend Interessierte stehen vor einer provisorischen Bühne. 30 Meter hinter ihnen hat sich eine deutlich größere Gegendemonstration formiert.
    Am Rand der Hagida-Veranstaltung unter einem Baum steht Gerda. Sie würde ja direkt vor der Bühne stehen, doch der Regen hält sie ab, sagt die Rentnerin. Konkrete Sorgen haben sie zur Demo gebracht.
    "Ich möchte gerne wissen, wie es für mich aussieht. In fünf Jahren, in zehn Jahren. Ich möchte das gerne wissen. Kann ich überhaupt ein Rentenleben führen oder werde ich mir jetzt noch drei Jobs suchen müssen?"
    Ob die Protestredner von Hagida auf der Bühne auf Gerdas Sorgen Antworten parat haben, wird nicht klar - denn: Man hört die Redner nicht.
    Ängste, Sorgen, Forderungen
    Die Antifaschistischen Tierbefreier und Tierbefreierinnen Hannover haben zur Gegendemonstration aufgerufen. Knapp 250 Menschen haben sie mobilisiert. Mit lauter Musik und Parolen stören sie die gegenüberliegende Kundgebung. Mit dabei ist auch eine junge Frau mit dem Spitznamen Katze. Sie macht eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin. Auch die 19-Jährige steht aufgrund ihrer Sorgen auf der Straße.
    "Man sollte meinen, wir müssten gelernt haben aus dem, was in der Vergangenheit passiert ist. Und dann tauchen jetzt vermehrt rechte Gruppierungen auf, die Sachen immer weiter in die Mitte der Gesellschaft etablieren und das macht mir natürlich Angst."
    Ängste, Sorgen und Forderungen - es braucht etwas so Grundlegendes, wie dieses, um Protestgruppen ins Leben zu rufen, meint Politikwissenschaftler Lars Geiges vom Institut für Demokratieforschung in Göttingen.
    "Jede Demonstrationsgruppe braucht einen kleinsten gemeinsamen Nenner, unter dem sich alles vereinigen lassen kann. Das ist extrem wichtig und das ist auch das, was dann so eine Gruppe, so einen Protest bindet und auch zusammenschweißt."
    Unversöhnliche Lager
    Dass es um Abgrenzung und nicht um Austausch geht, zeigt sich auch bei den Demonstrationen von Hagida und Antifaschisten in Hannover. Dialog wird nicht gesucht. Weder vom antifaschistischen Aktivisten Sebastian: "Mit Leuten mit geschlossenen Weltbildern kann man nicht diskutieren"; noch von Zeitarbeiter Erhardt auf der anderen Seite des Platzes: "Wenn ich dann dieses Krakele erlebe, das hat nichts von Geist und Esprit. Das ist einfach nur primitiv. Gucken sie sich das doch an, genau so, wie eine Horde Affen."
    Völlig unversöhnlich stehen sich die Lager auf dem Platz gegenüber. Der Dialog sei aber auch einfach nicht das Wesen des Protests, sagt Politologe Lars Geiges.
    "Ein Protest zündet nicht, wenn dort gesagt wird vom Redner. Aber wir müssen erst einmal alles analysieren, wir müssen jetzt erstmal auch jede Stimme hören, wir müssen jetzt erstmal abwägen. Nein. Protest wirkt anders. Protest wirkt durch Zuspitzung, durch Vereinfachung, durch Weglassen, zum Teil auch durch Lüge. Erst dadurch wird ein Protest ziel- und auch der Protestgegner formuliert und ein Anschub gegeben für den eigenen Protest."
    Destruktion versus Mobilisierung
    Was für Demonstranten bei einem Protest Erfolg bedeutet, ist ganz unterschiedlich. Die linksgerichtete Gegendemo sieht Destruktion als Erfolg. Ihr Hauptziel ist heute, Hagida zu stören.
    "Hier sind jetzt 200 Leute aufgeschlagen. Es ist lautstark, es ist guter Protest. Drüben stehen sieben bis acht Rechtspopulistinnen und ja das ist schon super. Das sind halt ewig Gestrige."
    Die Hagida-Gruppe setzt dagegen auf Mobilisierung.
    "Ich denke einfach mal, wenn genügend Leute die Missstände hier im Land auf den Tagespunkt bringen und auch wirklich auf die Straße bringen. Dann können die Politiker sich nicht mehr drücken. Irgendwann müssen sie hören."
    Abnehmende Gewaltbereitschaft
    Die Demonstrations-Bereitschaft nehme in Deutschland leicht zu, meint Politologe Geiges. Im Gegensatz dazu nehme die Gewalt bei Protesten im Vergleich zur Vergangenheit eher ab.
    "Ich wende mich immer ein bisschen dagegen, dass man sagt, wir haben es hier mit einer neuen Dimension der Gewalt zu tun. In den vergangenen Jahrzehnten gab es früher Demonstrationsauseinandersetzungen die kontroverser waren, die gewaltbereiter waren. Nichts davon finde ich auch irgendwie gut. Aber in der Diskussion sollte man das ab und an mitdenken."
    In Hannover gibt es an diesem Tag ebenfalls keine Gewalt. Nach zwei Stunden werden auf beiden Seiten die Transparente eingerollt. Sie werden aber wohl bald wieder ausgepackt, denn Demonstrationen sind in einer Gesellschaft mit immer komplexeren Problemen kein Auslaufmodell, sagt Politikwissenschaftler Geiges.
    "Protest und Demonstrationen werden weiter eine Rolle spielen – eine starke. Und alle Hinweise darauf, auch gerade in den letzten zwei, drei, vier Jahren deuten daraufhin, dass die Bedeutung und auch die Kraft von Bewegungen und Protest zunehmen."