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Provokationen, die ins Leere laufen

Tova Reich lässt das "einzige Kind eines einziges Sohnes" jüdischer Holocaust-Überlebender zum Christentum konvertieren. Für die Familie ein unerträglicher Skandal: einer von vielen, die das Buch satirisch ausschmückt. Sigrid Brinkmann stellt den ersten ins Deutsche übersetzten Roman der amerikanischen Autorin Tova Reich vor.

Vorgestellt von Sigrid Brinkmann | 05.02.2009
    Das Karmelitinnenkloster in Auschwitz ist die erste Station in dem grotesken Tableau, das Tova Reich auf über dreihundert Seiten entfaltet. Und um es gleich zu sagen: Der Roman ist 150 Seiten zu lang. Weil sie ihre These, dass das so genannte "Holocaust-Judentum" längst zur wichtigsten Strömung im Judentum geworden sei, griffig bebildern wollte, langte sie voll zu. Es gibt keine Figur, die nicht komplett der Lächerlichkeit preisgegeben wäre. Die aus Osteuropa immigrierten amerikanischen Juden, auf die sich Tova Reich kapriziert, sind im Lauf ihres Lebens allesamt zu korrupten, zynischen wie selbstverliebten "Holocaust-Nassauern" degeneriert. Deren Kinder, die zweite Generation, beschreibt sie als eine "Bande von Heulsusen", die sich schadlos hält am Leiden der Eltern. Einer aus dieser "Bande" erklärt seiner Tochter eines Tages die Prahlereien des Großvaters:

    "Musst Dich damit abfinden, Kleines (....) geschossen hat er in den Wäldern nicht – bloß geschissen!"
    "Du meinst, Großvater war gar kein Partisanenführer und hat nicht gegen die Nazis gekämpft?" Das Kind schien ehrlich schockiert zu sein. (...)
    "Schau", sagte Norman überdeutlich, "es ist ja nicht so, als hätte er nicht wirklich gelitten. Es ist schließlich nicht leicht, stets und ständig für ein Opfer gehalten und von anderen bedauert zu werden – erst recht für so einen Macho wie deinen Großvater. (...) Der Holocaust-Markt wird nicht zusammenbrechen, bloß weil ein alter Mann ein bisschen übertreibt, glaub mir."


    Die Tochter reagierte nach der Enthüllung - wann immer ihr Opa die "Partisanenplatte" auflegte - nur mehr mit "deliziösen Spöttereien". Und schon bald wurde aus ihr eine Abtrünnige, die behauptet, dass die Christen die neuen Juden seien und auch "ein Recht auf einen Holocaust" haben. Aus der "Holocaust-Prinzessin" Nechama wurde Consolatia vom Kreuz bei den Karmelitinnen in Auschwitz. Unrettbar verloren. Ihr Vater und ihr Großvater sind die ersten Figuren, die Tova Reich aufbaut und zugleich demontiert. Maurice und Norman Messer sind Inhaber der Firma "Holocaust Connections" und darauf spezialisiert, das Image von Unternehmen aufzubessern, denen sie gegen viel Bargeld den Status "Holocaustler ehrenhalber" verleihen. Satiriker scheren sich nicht um die Entwicklung von Charakteren, aber dass Tova Reich alle antisemitischen Klischees bedient, weckt unwillkürlich Widerwillen. So haben sich die Messers natürlich auch in Institutionen von unzweifelhaftem Renommee festgesetzt, zum Beispiel im United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. Im Roman ist auch diese mit staatlichen Mitteln aufgebaute Einrichtung ein einziger Selbstbedienungsladen für Juden. Tova Reichs Ehemann, der Psychiater Walter Reich, hat das Holocaust Memorial Museum von 1994-1998 geleitet. Es heißt, er sei im Zorn gegangen. Freiwillig. Dass die Ehefrau mit romanesken Mitteln ein paar offene Rechnungen begleichen wollte, drängt sich auf. Der real in jenen Amtsjahren geführte Streit über eine gewünschte Sonderführung für Yassir Arafat - Walter Reich lehnte dies strikt ab -, ist nur eine von vielen Petitessen, die abgehandelt werden. Es schwirrt einem der Kopf, und irgendwann vermischen sich die Züge der grotesken Gestalten, die im Holocaust Memorial Museum und in Auschwitz aufeinandertreffen. Das Lager ist in Reichs überbordender Satire ein Anziehungspunkt für israelische Knochensammler, für polygame Mormonen, polnische Pfadfinder und jüdische New Age-Verzückte, die sich von Gleichgesinnten auf dem Aschenfeld zu buddhistischen Mönchen weihen lassen.

    "Oj wej" stöhnte Maurice, nur mühsam die Stimme dämpfend, "da bin ich aber froh, dass der Papa das nicht sieht – der Junge ist ja ganz plemplem von seinen Pilzen. Pinky, erkennst du nicht, wer das ist? Eliot Schmaltz, der Sohn meines Proktologen Adolf Schmaltz, das ist der mit dem ochsenblutfarbenen Toupet! Du kennst doch Adolf – hängt im Museum an der Wand -, der hat die Kette mit Privatkliniken, alles den Versicherungspolicen zu verdanken, die eh kein Mensch versteht. Natürlich kennst du ihn, er gibt mir doch jedes Haushaltsjahr das Attest, damit ich auf meinen Dienstreisen erster Klasse fliegen kann. Oj wej!"

    Einem solch derb austeilenden, phantasmagorischen Buch über Juden, die durchweg als bornierte Krämerseelen, als großmäulige und heuchlerische Kreaturen erscheinen, kann nur eine ungeheure Wut zugrunde liegen; gewiss auch Verzweiflung über die Trivialisierung des Genozids in Fernseh- und Kinoproduktionen sowie in sentimentaler Literatur. Zu einem solchen Schlag hat bislang kein Autor ihrer Generation – also der heute Sechzigjährigen -, ausgeholt. Amerikanische Literaturkritiker haben Tova Reich nach dem Erscheinen ihres Buches 2007 vorgeworfen, sie hätte den Bogen überspannt. Selbst Mel Brooks habe nur über Hitler Scherze gemacht, nicht aber über Juden, die sich im heutigen Auschwitz über behindertengerechte Zugänge zu den Gaskammern und Krematorien freuen und sich naiv fragen, ob es diese damals wohl auch schon gegeben habe. Das erste Roman-Kapitel, "Die Holocaust-Prinzessin", hat Tova Reich bereits im Jahr 2000 als Erzählung in der online-Zeitschrift "The Atlantic" veröffentlicht. Zeitgleich erschien Norman Finkelsteins Buch "Die Holocaust-Industrie". Der Historiker – selber Sohn von KZ-Überlebenden - vertrat die These, dass jüdische Führungspersönlichkeiten gezielt die vermeintliche Bedürftigkeit von Opfern benutzten, um das Land mit Lernorten zu überziehen und Studien zu finanzieren, an denen sich gut verdienen liesse. Das Shoah-business, so Finkelstein, schüre letztlich den Antisemitismus in Europa. In den USA wurde die These offensiv beschwiegen, in Großbritannien und Deutschland neutralisierte die Presse den Autor, indem sie ihn als jüdischen "Selbsthasser" in die Ecke stellte. Finkelstein wie Tova Reich attackieren eine Fetischisierung des Holocaust. Zugleich auch dessen Nivellierung. Dass dem Relativismus keine Grenzen zu setzen sind, muss die Autorin ungemein anwidern. Sie findet dafür diese Formel:

    (....) eine Laborratte ist ein Huhn in der Legebatterie ist eine vom Aussterben bedrohte Walart ist deine Großmutter.

    Was passiert, wenn alle ihren "Teil vom Holocaust-Kuchen" fordern und die Einzigartigkeit der Tragödie des jüdischen Volkes tränenselig bestritten wird? Keine Frage: "Universalisten" weist Tova Reich in die Schranken. Doch weiß man nach der Lektüre ihres Buches leider nicht mehr als vorher: Der Holocaust ist längst zur Metapher geronnen, und zu oft dient er als letzter Trumpf in schablonenhaften Reden. Knapp eingeflochtene, resignativ klingende Sätze wie der vom "Ende des Zeitalters des Erinnerns" entblößen die ganze ohnmächtige Wut der Autorin. Doch stets serviert sie schnell die nächste Frechheit. Tova Reichs Provokationen laufen ins Leere.

    Tova Reich: "Mein Holocaust". Roman. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz, 336 Seiten, 21,95 Euro, DVA, München 2008