Freitag, 29. März 2024

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Prozess gegen Stephan E.
Der Mord an Lübcke und die Rolle des Verfassungsschutzes

Stephan E. muss sich wegen der Tötung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor Gericht verantworten. Dabei geht es auch um die Frage, warum Hessens Verfassungsschutz es zuließ, dass der mutmaßlicher Helfer Markus H. jahrelang sechs Schusswaffen besitzen konnte.

Von Ludger Fittkau | 16.06.2020
    16.06.2019, Hessen, Bad Hersfeld: Ein gerahmtes Porträtfoto des erschossenen Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) steht beim großen Festumzug auf dem 59. Hessentag auf einem Platz der Ehrentribüne.
    Walter Lübcke wurde im Juni 2019 auf der Terrasse hinter seinem Haus erschossen (picture alliance / Swen Pförtner)
    Mehr als 200 Journalistinnen und Journalisten – auch aus den Niederlanden, der Schweiz und der Türkei – haben sich für die kommenden Monate beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main angemeldet. Sie wollen den am Dienstag (16. Juni 2020) beginnenden Prozess gegen den mutmaßlichen Lübcke-Mörder Stephan E. sowie seinen rechtsextremistischen Gesinnungsgenossen Markus H. verfolgen.
    Markus H. wird Beihilfe zum Mord vorgeworfen. Stephan E. wird nicht nur der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor einem Jahr zur Last gelegt, sondern zusätzlich auch ein Mordversuch am irakischen Flüchtling Ahmad E. vor viereinhalb Jahren.
    25.06.2012, Hessen, Kassel: Walter Lübcke (CDU), Regierungspräsident von Kassel, spricht bei einer Pressekonferenz. Foto: Uwe Zucchi/dpa | Verwendung weltweit
    Vorwurf: Mord aus rechtsextremistischen Motiven
    Juristisch wie politisch weist der Fall Lübcke weit über sich hinaus. Weitere dem Angeklagten E. zugeschriebene Taten und Verbindungen zum NSU-Komplex werden Hessens Richter und Politiker noch länger beschäftigen.
    Lübcke stand auch auf einer Todesliste des NSU
    Sowohl der damals durch einen Messerstich schwer verletzte Asylsuchende als auch die Familie Walter Lübckes werden als Nebenkläger heute im Gerichtssaal erwartet. Dirk Metz, Sprecher der Familie Lübcke, zur Entscheidung der Angehörigen des Mordopfers, am Prozess teilzunehmen:
    "Die Entscheidung ist auch ein Signal gegen Hass und Gewalt. Die Familie ist der Überzeugung, dass sie auch für die Werte, für die Walter Lübcke ein politisches Leben lang eingestanden ist, dass auch sie für diese Werte eintreten soll."
    24.05.2020, Berlin: Mitglieder des internationalen Auschwitz Komitees kleben zur symbolischen Umbenennung den Schriftzug ?Walter-Lübcke-Straße? auf ein Straßenschild der Sigismundstraße. Am 2. Juni jährt sich zum ersten Mal die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.
    Walter Lübcke ist zur bundesweiten Symbolfigur im Kampf gegen Rechtsextremismus geworden (picture alliance / dpa / Carsten Koall)
    Der 64 Jahre alte Richter Thomas Sagebiel wird den Vorsitz der Verhandlung übernehmen. Sagebiel hat viel Erfahrung mit Prozessen gegen Angeklagte, die unter Terrorismusverdacht standen. Seien es ehemalige Kämpfer des Islamischen Staates oder mutmaßliche Massenmörder in Ruanda.
    Jetzt geht es um zwei Rechtsextremisten, die laut Ermittlungen der Bundesanwaltschaft den Mord an Walter Lübcke jahrelang vorbereitet haben sollen. Und die womöglich schon vor anderthalb Jahrzehnten zum Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds – kurz NSU – gehörten, der auch in Kassel mordete. Seit einigen Wochen ist bekannt, dass auch Walter Lübcke schon früh auf einer Todesliste des NSU stand – möglicherweise, weil er sich schon kurz nach der Wende in Thüringen in der Jugendbildungsarbeit gegen rechtsextremistische Umtriebe engagiert hatte.
    Beate Zschäpe (v.l.), Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos
    Welche Rolle spielte der NSU in Hessen?
    Nach dem Mord an Walter Lübcke wirft eine ZDF-Doku die Frage auf: Gab es neben Stephan E. und dessen mutmaßlichen Mitwisser Markus H. auch Verbindungen zum rechten Terrornetzwerk NSU?
    Verfassungsschutz hätte Waffenbesitzkarte verhindern können
    Kurz vor dem heutigen Prozessbeginn räumte der hessische Verfassungsschutz erstmals öffentlich ein, vor fünf Jahren dafür mitverantwortlich gewesen zu sein, dass der mutmaßliche Mordhelfer Markus H. ganz legal sechs Waffen besitzen konnte. Denn der Inlandsgeheimdienst gab Informationen über antisemitische Internet-Aktivitäten von Markus H. nicht an das Verwaltungsgericht Kassel weiter. Das Gericht hatte beim Verfassungsschutz nachgefragt, ob es neue Erkenntnisse über Markus H. gäbe, die gegen eine Waffenbesitzkarte für den bekannten Rechtsextremisten sprächen.
    "Heute würden wir uns das genauestens anschauen", sagt Hessens heutiger Verfassungsschutz Robert Schäfer zum Waffenbesitz Markus H.s
    "Heute würden wir uns das genauestens anschauen": Hessens Verfassungsschutz Robert Schäfer (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
    Obwohl es diese Erkenntnisse beim hessischen Inlandsgeheimdienst gab, wurden sie nicht an die Justiz übermittelt. Robert Schäfer, der heutige Präsident des hessischen Verfassungsschutzes, kann sich das nicht erklären, sagte er kurz vor dem heutigen Prozessbeginn im ARD-Fernsehmagazin Panorama:
    "Nee, kann ich nicht erklären. Weil mir die Erklärung fehlt, warum man das so nicht gemacht hat. Heute würden wir das alles übermitteln. Heute würden wir uns das genauestens anschauen und gucken, was kann man tun. Sonst werden wir unserem Anspruch, Extremisten dürfen keine legalen Waffen haben, nicht gerecht."
    Der Stuhl auf der Ehrentribühne, der für den erschossenen Kasseler Regierungspäsidenten Walter Lübcke reserviert war, ist am Tag des Festumzugs mit einem Foto und einem Blumenstrauß geschmückt. Der Festumzug markiert auch in diesem Jahr wieder das Ende des Hessentages.
    Ein Jahr nach dem Mord - "Zäsur in unserer deutschen Geschichte"
    Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wurde Anfang Juni 2019 mit einem Kopfschuss zu Hause getötet. Die Hintergründe der Tat und welche Rolle die beiden in der Szene gespielt haben – ein Überblick.
    Gegenseitige Schuldzuweisungen zu erwarten
    Mit den Waffen, die Markus H. in den Jahren vor dem Lübcke-Mord schließlich legal besitzen durfte, soll er gemeinsam mit dem mutmaßlichen Mörder Stephan E. in einem Schützenverein sowie im Wald Schießübungen abgehalten haben.
    Nach einem Geständnis des Mordes an Walter Lübcke noch im Sommer 2019 widerrief Stephan E. Anfang 2020 und beschuldigt nun Markus H., den tödlichen Kopfschuss auf Walter Lübcke ausgelöst zu haben. Bei dem heute beginnenden Prozess sind also auch gegenseitige Schuldzuweisungen der angeklagten Rechtsextremisten zu erwarten.