Donnerstag, 25. April 2024

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Prüfend-filternde Instanz

Der Pianist Alfred Brendel gilt als Maßstäbe setzender Interpret der Werke von Franz Schubert und Ludwig van Beethoven, deren Sonaten er mehrfach komplett aufgenommen hat. Am 05. Januar 1931 wurde er geboren.

Von Wolfram Goertz | 05.01.2011
    Eine eigenartige Situation ist eingetreten. Wir hören den großen, uns völlig präsenten Pianisten Alfred Brendel mit einem seiner Lieblingswerke, der späten B-Dur-Sonate von Franz Schubert – und doch sind wir gezwungen, in der Vergangenheitsform zu sprechen. Brendel, gefeierter Pianist über viele Jahrzehnte, hat vor zwei Jahren im Alter von 78 Jahren seinen Abschied von der Bühne verkündet; öffentlich wolle er nur noch als Rezitator seiner Gedichte auftreten. Normalerweise müssen Künstler von der Bühne getragen werden; Brendel ging, als er alles konnte und alles wusste.

    Schuberts und Beethovens Sonaten – diese Werke hielt der am 5. Januar 1931 im nordmährischen Wiesenberg geborene Pianist für dermaßen unerschöpflich, dass er sozusagen nicht fertig mit ihnen wurde und die Zyklen alle zehn, fünfzehn Jahre tatsächlich neu erarbeitete. Das war Brendels Eingeständnis von Demut. Größte Befriedigung verspürte er – darin ein idealer Schüler des großen Edwin Fischer –, wenn es ihm gelang, Musik jeden Rest von Brendel auszutreiben und er eine Komposition als reine Kunst dastehen ließ, der man die Vermittlung durch einen Pianisten nicht mehr anhörte. Dabei hatte Brendel selbst genaue Vorstellungen, wie bei einem Musiker Gefühl und Verstand zusammenwirken sollten:

    "Der Impuls sollte vom Gefühl ausgehen, und der Verstand sollte als prüfende, filternde Instanz da sein. Aber es ist dann so, wie Novalis sagte, dass 'im Kunstwerk das Chaos durch den Flor der Ordnung schimmert'. Das ist erlaubt."
    Dass Alfred Brendel irgendwann als Nestor, als Alterspräsident des internationalen Hochpianistenwesens, übrig bleiben würde, hatte sich niemand träumen lassen. Er wirkte ja stets überaus präsent und gegenwärtig, eine stille, zuverlässige, unaufdringliche Kapazität im Zirkus der Eitelkeiten. An seinen Interpretationen hing sozusagen immer ein TÜV-Siegel, sie waren die Klassiker-Bank schlechthin. Doch sein Repertoire war übersichtlich – Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert, Brahms, Liszt. Er war ja an vielen Dingen interessiert, reiste oft und legte Wert darauf, sich nicht als unermüdlicher Arbeiter im Weinberg der Musik zu verschleißen.

    "Ich gehöre ja nicht zu den Musikern, die völlig in der Musik aufgehen. Aber für mich war es immer ein Bedürfnis, nicht nur zu lesen, sondern zu schreiben. Das tue ich weiterhin. Ich habe in jungen Jahren auch eine Zeitlang gemalt, das hab ich längst aufgegeben, es ist aber immer wichtiger für mich geworden, zu schauen. Ich gehe in Museen, in Ausstellungen, mache manchmal Reisen zu Ausstellungen, die mich interessieren. Ich bin eigentlich an allem interessiert, was ästhetisch ist, an Filmen, an Theater."

    Dass Brendel sich auf wenige Komponisten spezialisierte, war eine Folge von Konzentrationsvorgängen. Als junger Pianist hatte er alles gespielt, was ihm vor die Brille kam, er übte sogar Klavierkonzerte von Prokofiew, Rachmaninow und Krenek, Balakirews exotische Paradenummer "Islamey" oder Strawinskys "Petruschka".

    Brendel war der erste Pianist, der alle Werke Beethovens auf Platte einspielte. Bald interessierte er sich auch für Franz Liszt, in dem nach seiner eigenen Bekundung "viel Visionäres" stecke. Wenn Brendel Liszt aufs Programm setzte, verschwand alles Pompöse, Klirrende und Artifizielle: Liszt als Zeitgenosse der Zukunft, modern in seinen Klangfarben und Konzepten – wie in der ersten Franziskus-Legende, der Predigt vor den Vögeln.