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Psyche unter Druck
Wenn der Alltag krank macht

Immer mehr Menschen fühlen sich gestresst. Rund fünf Millionen Deutsche leiden sogar an einer Depression. Auf dem größten Fachkongress für seelische Gesundheit haben deshalb mehr als 9.000 Experten in Berlin über die Folgen von Stress und zunehmendem Arbeitsplatzdruck diskutiert - und dabei auch Therapiemethoden für psychische Erkrankungen vorgestellt.

Von Dörte Hinrichs | 01.12.2016
    Ein Mann sitzt am 04.08.2013 auf einem Steg am Selenter See (Schleswig-Holstein).
    Arbeitsdruck, Selbstoptimierung, das Leben in der Stadt: Alles Stress für die Psyche. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Es ist nicht nur die Vorweihnachtszeit, es ist ein ganzjähriges Phänomen: Immer mehr Menschen fühlen sich gestresst. Die Gründe dafür sind vielfältig, so die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde, Dr. Iris Hauth:
    "Globalisierung, Ökonomisierung, Arbeitsplatzdruck, also viele gesellschaftliche Entwicklungen des letzten Jahrzehnts verunsichern die Menschen, und machen bei vielen Menschen – das zeigen auch die Stressreporte – chronischen Stress. Und das sind natürlich Voraussetzungen, die Risikofaktoren für die Entwicklung von psychischen Erkrankungen sind. Aber wir wissen auch, dass Urbanisierung, also Menschen, die in Großstädten wohnen, höhere Raten von Erkrankungen haben, zum Beispiel Angst- und Depressionserkrankungen sind im Risiko 30 bis 40 Prozent höher als bei Menschen in kleineren Städten und auf dem Land."
    Dass gerade Menschen in Großstädten gestresster und damit anfälliger für psychische Erkrankungen sind, haben Studien des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim ergeben. Lärm, Reizüberflutung, Anonymität und Isolationsgefühle sind dafür mitverantwortlich. Hinzu kommt:
    "Jeder Zweite am Arbeitsplatz fühlt sich chronisch gestresst, im Privatleben durch viele Anforderungen, durch Selbstoptimierungsanforderungen scheinen wir ja eine überforderte Gesellschaft zu haben und insofern ist das Thema seelische Gesundheit uns ein ganz wichtiges. In der Prävention gibt es viele gute Studien und Ergebnisse, dass Prävention bei psychischen Erkrankungen hilft."
    "Stressmonitor" ermittelt Belastung von Arbeitnehmern
    Rund fünf Millionen Menschen leiden an einer Depression, schätzt die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde. Auf ihrer Tagung in Berlin wurden Forschungsergebnisse und Therapiemethoden für verschiedene psychische Erkrankungen vorgestellt. Prof. Andreas Hillert, Chefarzt in der Schön-Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee hat den "Stressmonitor" mitentwickelt. Der Online-Fragenkatalog kann für das Gesundheitsmanagement in Unternehmen genutzt werden:
    "Es ging einer Betriebskrankenkasse darum zu erfahren, wie belastet sind die Mitarbeiter der Firma" - es handelte sich um eine Elektrofirma – "für die diese Betriebskrankenkasse zuständig ist. Und das sollte, weil es eine große Firma mit vielen zigtausend Mitarbeitern ist, online gehen. Es sollte zum einen erfasst werden, wie belastet fühlen sich die Mitarbeiter, fühlen sie sich ausgebrannt, fühlen sie sich burnout?
    Insbesondere ging es aber auch darum, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand manifest erkrankt ist, also wie weit muss man dann auch medizinisch tätig werden. Das war unser Anliegen im Stressmonitor, beides getrennt zu erfassen: Berufliche Belastung, Gratifikationserleben, aber eben auch mit einem Screening-Instrument, ob ein Mensch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit an einer Depression oder einer Angststörung leidet."
    Ein Mann sitzt abends in einem Büro an einem vollen Schreibtisch und arbeitet in Berlin. 
    Überstunden, ständige Erreichbarkeit, mangelnde Wertschätzung: Die steigende Arbeitsbelastung im Beruf macht immer mehr Menschen krank. (picture-alliance / dpa / Wolfram Steinberg)
    Die Daten des Stressmonitors werden selbstverständlich anonym erhoben. Direkt im Anschluss gibt es eine individuelle Rückmeldung mit Empfehlungen, was zu tun ist, sowie eine Gesamtauswertung für das Unternehmen.
    "Parallel dazu haben wir auch eine Untersuchung mit dem Bayerischen Beamtenbund gemacht und so eine große Stichprobe mit weit über 30.000 Teilnehmern, wo man dann sehr schön darstellen kann, a) wie belastet sich Menschen fühlen, b) wieweit sie sich selber auch als ausgebrannt oder burnout erleben, und das dann im Abgleich, ob sie mit höherer Wahrscheinlichkeit auch objektiv erkrankt sind."
    "Ich muss ganz viel geben und bekomme ganz wenig raus"
    Und das Spannende ist gerade der Vergleich beider Stichproben aus dem Stressmonitor: Denn die Teilnehmer aus der freien Wirtschaft und die Beamten, vorwiegend Lehrer, fühlten sich auf unterschiedliche Weise gestresst:
    "Lehrer, Beamte beispielsweise erleben sich sehr als gestresst und sehr als belastet, sind aber objektiv gesünder. Umgekehrt leiden Beamte eher unter einem Gratifikations-Ungleichgewicht, also haben das Gefühl, ich muss ganz viel geben im Beruf und bekomme ganz wenig raus. Das ist in der Wirtschaft deutlich anders, aber objektiv gesehen sind wiederum die Mitarbeiter in der Wirtschaft kränker."
    Die verbeamteten Lehrer erfüllten weniger häufig die Screening-Kriterien für das Vorliegen einer Depression oder einer Angsterkrankung. Das hat auch mit äußeren Faktoren zu tun, so Dr. Ulrich Stattrop, Oberarzt in der Schön Klinik Roseneck.
    "Die Gefahr des Arbeitsplatzverlustes, der Rationalisierung ist bei Lehrern, die ja in Deutschland üblicherweise Beamte sind, deutlich weniger gegeben, während es bei anderen Berufsgruppen eine wesentliche Rolle spielt. Und wir sehen ja auch, dass wenn bestimmte Industriezweige, bestimmte Unternehmen in Krisen geraten, genau aus diesen Bereichen vermehrt Patienten mit Burnout, mit Depression, mit Angsterkrankungen in die Klinik drängen."
    Burnout: Ein Phänomen, das sich über alle Berufsgruppen erstreckt
    Wer es gar nicht erst so weit kommen lassen möchte und in seinem Unternehmen präventiv tätig werden will, kann die Ergebnisse des Stressmonitors gezielt für das Gesundheitsmanagement nutzen – oder auch nicht:
    "Die besagte Elektrofirma, wo das Instrument über ein Jahr eingesetzt wurde, hat das erst einmal wieder abgeschaltet, weil man sehr schön sehen konnte, in bestimmten Abteilungen ist das Belastungserleben massiv höher als in anderen Bereichen, aber wenn die mir aus strategischen Gründen wichtig sind, dann gucke ich lieber doch nicht so genau hin. Also Stressmonitor ist ein sehr gutes Instrument, aber mit betriebspolitischen Nebenwirkungen und den Mut, dann auch da dranzubleiben, der ist nicht immer vorauszusetzen.
    Zum Beispiel wird der Stressmonitor aktuell in mehreren größeren Kliniken eingesetzt, wo man gemerkt hat, dass Mitarbeiter der Notaufnahme, Krankenpfleger, Krankenschwestern massiv belastet sind, sich massiv im Gratifikations-Ungleichgewicht fühlen, das hat mit Personalausdünnung zu tun, mit bestimmten Abläufen dort. Das ging da um den Aspekt, ich werde von Patienten oder deren Angehörigen beschimpft, wenn es nicht so schnell oder anders geht, als die sich das vorstellen. Und da wurde jetzt die Klinikleitung genau auf diese Punkte aufmerksam und ich hoffe, dass sich daraus dann auch konstruktive Veränderungen in diesen Bereichen ergeben."
    Frau mit geschriebenen Wörtern im Gesicht als Symbolbild für Depressionen und Hilflosigkeit
    Burnout oder ausgebrannt: Das Phänomen ist dasselbe. (imago / Westend61)
    Das Wissen um stressauslösende Faktoren ist größer geworden, aber auch die Vielzahl der Berufe mit gestressten Mitarbeitern. Vorbei die Zeiten, als vor allem Pädagogen und Sozialarbeiter von Burnout betroffen waren, inzwischen erstreckt sich das Phänomen über alle Berufsgruppen. Allerdings gibt es deutliche Unterschiede zwischen den sozialen Milieus, wie eine gemeinsam mit dem SINUS-Institut gemachte Studie ans Tageslicht brachte:
    "Wir haben eine Studie gemacht, wo es darum geht, die Zusammenhänge zwischen sozialen Milieus und psychischen Erkrankungen zu untersuchen und wir haben zwei Zusatzfragen in diesen Fragebogen mit aufgenommen. Dabei ging es einmal um die Frage: 'Ich leide an einem Burnout-Syndrom' und um die scheinbar ähnlich klingende Frage 'Ich fühle mich ausgebrannt'.
    Und wir konnten zeigen, dass sich unterschiedliche Milieus ganz unterschiedlich in ihrer Selbstidentifikation und Begriffszuordnung wiederfinden. Ausgebrannt fühlen sich vor allem traditionelle Milieus im Bereich der Unterschicht, aber auch der Mittelschicht, während unter einem Burnout vor allem moderne Milieus der gesellschaftlichen Oberschicht leiden."
    Allein die Verwendung unterschiedlicher Begriffe für dasselbe Phänomen führt zu unterschiedlichen Ergebnissen. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein:
    "Dass es vor allen Dingen karriereorientierte Milieus der Oberschicht sind, wo der Begriff des Burnouts mit dem eigenen Selbstbild vereinbar ist, während dieser Begriff wahrscheinlich für Unterschichtmilieus zu kompliziert klingt, und die sich eher in diesem normalen 'Ich fühle mich ausgebrannt' erleben."
    Gerade die von Burnout-geplagten Personen aus dem sozial-ökologischen Milieu sind überrepräsentiert in den entsprechenden Kliniken, so auch in der Schön-Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Und: Patienten aus dem Oberschichtmilieu profitieren am stärksten von der Therapie, Patienten aus der Unterschicht am wenigsten. Deshalb sieht Dr. Ulrich Stattrop hier Handlungsbedarf:
    "Das heißt, es geht darum, Menschen milieuspezifisch anzusprechen, um sie überhaupt adäquaten Behandlungsstrategien zuführen zu können. Und es geht aber sicher auch darum, dass wir für unterschiedliche Milieus andere Sprache brauchen, dass wir die subjektiven Konzepte mehr in unsere Therapien einbeziehen und letztlich wahrscheinlich milieu- und berufsspezifische Therapiekonzepte brauchen, um hier wirklich zu Erfolgen zu kommen."
    Mit Ausdauersport gegen Depressionen vorbeugen
    Gut erprobt sind mittlerweile die Stressbewältigungs-Programme am Arbeitsplatz für Menschen in mittleren Hierarchien in der Wirtschaft und für Lehrer. Ausgangspunkt ist zum Beispiel die Frage: Was unterscheidet einen Lehrer, der langfristig in seinem Beruf gesund bleibt, von einem, der krank wird und als Patient in die Klinik kommt. Prof. Andreas Hillert:
    "Dort haben wir große empirische Studien gemacht, alters- und geschlechtsspezifisch die verglichen, Gesunde und Kranke. Also beispielsweise geht es um individuelle Stressverstärker: Warum erleben zwei Menschen in einer identischen Situation die als ganz unterschiedlich belastend? Der eine sagt, das gehört zum Alltag, ist harmlos und der andere sagt, das ist ja schrecklich, da muss man ja krank werden. Und das sind bestimmte individuelle Muster, die man da identifizieren kann: Ich habe einerseits einen hohen Idealismus, ich will alle Leute erreichen – auf der anderen Seite traue ich mir das aber nicht zu, gerade auch mit Konflikten umzugehen.
    Und solche vulnerablen Konstellationen sind es, auf die aufbauend wir dann eben acht Doppelstunden Therapieangebote machen, wo die Lehrer dann sukzessive ein Modell entwickeln – jetzt nicht gute Ratschläge zu verfolgen, das funktioniert nicht: 'Machen Sie sich mal weniger Stress!' – sondern wo man guckt, in welchen Bereichen bin ich gut aufgestellt, in welchen Bereichen bin ich nicht so gut aufgestellt und sich dann Präventions-Aspekte raussucht und ein individuelles Projekt daraus macht."
    Die am Projekt beteiligten Lehrer werden in der Therapie nicht geschont, sondern aktiv gefordert:
    "Das wird dann möglichst intensiv kognitiv, aber auch emotional mit Rollenspielen, mit Aktivierung der sozialen Umwelt durchgeführt, und wenn man das macht, sieht man sehr schön, nach einem Jahr sind von Leuten, die wir in Ruhe lassen, erholt euch mal gut, der Lehrerberuf ist sehr stressig, denkt mal bloß nicht an die Schule, sind ungefähr dreißig Prozent in Frühpension und wenn man die sechs Wochen in acht Doppelstunden "agil stresst" in Kleingruppen mit acht bis zehn Patienten, dann findet man, dass ungefähr zehn Prozent in Vorruhestand sind."
    Damit aus den zehn Prozent Vorruheständlern nicht mehr werden, ist es wichtig zu wissen, was auch allgemein stressreduzierend wirkt und die seelische Gesundheit fördert. Dr. Iris Hauth, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde:
    "Auch da ist regelmäßiger Sport, dreimal in der Woche Ausdauersport, hilfreich, um gegen Angststörungen, gegen Depressionen vorzubeugen, sicher eine gute Work-Life-Balance, zu wissen, wann schalte ich mal ab, welche Methoden kann ich auch anwenden, wenn ich nicht so gut abschalten kann, also Entspannungsmethoden."