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Psychische Störung
Wenn die ganze Familie ADHS hat

Zappelphilipp-Syndrom wird ADHS auch genannt. Dabei denkt man automatisch an ein Kind. Doch was viele nicht wissen: Auch Erwachsene können betroffen sein vom Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom. Und sogar ganze Familien.

Von Thomas Liesen | 30.08.2016
    Der Schatten einer Familie, die sich an der Hand hält.
    Als Karin Knudsen sich an ihre Kindheit erinnert, dämmert ihr: ADHS ist ein Teil ihrer Familiengeschichte. (picture alliance / dpa / M. C. Hurek)
    Dass Karin Knudsen selbst ADHS habe könnte, hat sie jahrzehntelang nicht geahnt. Sie lebt zunächst ein halbwegs normales Leben, heiratet, bekommt zwei Söhne. Mit der Störung namens ADHS kommt sie erstmals bewusst in Kontakt, als diese bei ihren Kindern diagnostiziert wird. Einem Lehrer war aufgefallen:
    "Dass sie die typischen Merkmale in der Schule zeigten: unkonzentriert, zappelig, der Ältere war immer der Clown in der Klasse. Und der Lehrer fragte mich: Wo kommt das nur her?"
    Ein Arzt stellt schließlich die Diagnose ADHS. Und er rät zum Medikament Ritalin.
    "Ich wollte davon nichts wissen. Psychopharmaka für meine Kinder kam ja erst mal gar nicht infrage. Also wir haben alles versucht: Wir haben Ernährung umgestellt, wir haben viel Sport gemacht – die Kinder waren Turner, sogar sehr gute Turner und so dachten wir, kriegen wir es hin."
    Doch dann kommt die Pubertät bei ihren beiden Jungs.
    "Und dann hatten wir ganz ganz viele Stationen, die sehr unruhig waren. Da ging so richtig der Punk erst mal bei uns ab."
    Die Unruhe der Söhne ist der Mutter nicht fremd
    Und das ist wörtlich zu verstehen. Ein Sohn gerät in die Punkszene, er bricht die Schule ab, ist ständig unterwegs. Der andere schlägt sich mit Schulproblemen herum. Was Karin Knudsen erst Jahre später richtig bewusst wird: Die Unruhe der Söhne ist ihr selbst alles andere als fremd. Sie ist zwar damals mit Anfang 40 kein Zappelphilipp nach außen hin, aber im Inneren herrscht dennoch sehr häufig Aufruhr. Und dieser Zustand zieht sich wie ein roter Faden durch ihr eigenes Leben.
    "Das heißt, ich war sehr innerlich unruhig, war ich immer emotional sehr instabil, was dann auch eine Ärztin bewog, mir damals so eine Art Tranquilizer zu verschreiben."
    Ihr Mann sagt sogar einmal halb scherzhaft: Du hast ja wohl selbst ADHS.
    "Ich habe das als absurd empfunden. Ganz viele Jahres später bin ich selbst darauf gekommen, also etwa mit 55."
    Familiengeschichte aufgearbeitet
    Nicht zuletzt, weil sie irgendwann anfängt, ihre eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten. Und sich nochmal genau an ihre Kindheit erinnert, auch an die Eltern. Da dämmert ihr: ADHS ist ein Teil unserer Familiengeschichte.
    "Mein Vater, der mit Sicherheit hoch betroffen war, eine immense Impulssteuerungsschwäche hatte und der mir auch Angst gemacht hat und dessen Leben mit 60 im Suizid geendet hat."
    Schließlich lässt sie selbst einen ADHS-Test machen. Der bestätigt: Auch sie ist definitiv betroffen.
    "Und heute lebe ich gut mit einer sehr geringen Medikation Methylphenidat und es geht mir gut. Weil ich in der Spur laufe. Ich habe Bodenkontakt. Ich habe auch einen entspannteren Umgang mit meinen Söhnen, die Medikation ablehnen. Da müssen sie halt schauen, wie sie damit klar kommen."