Freitag, 19. April 2024

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Psychoanalytikerin Lilli Gast
"Neid ist etwas sehr Destruktives"

Menschen, die alles dafür tun, um in der Pole Position des Lebens zu stehen, schützten sich so vor dem unangenehmen Gefühl des Neids, sagte die Psychoanalytikerin Lilli Gast im Dlf. Denn Neid bedeute: 'Ich bin übertroffen worden'. Für viele sei das Gefühl sehr schwer auszuhalten.

Lilli Gast im Gespräch mit Michael Köhler | 25.12.2019
Yachten an der Cote d Azur.
Begehrtes Objekt, das Neid auslösen kann: Yachten an der Cote d'Azur (imago images / Westend61 / Werner Dieterich)
Neid sei etwas sehr Destruktives, es ziele darauf ab, dass "das, was der andere hat, nicht haben soll, dass das eigentlich mir zusteht", sagte die Psychoanalytikerin Lilli Gast im Dlf. Niemand würde zugeben, neidisch zu sein, sondern sagen 'der andere hat das gar nicht verdient'. Es werde immer begründet und zwar nie mit dem eigenen Gefühl des Neides.
Lilli Gast ist Diplom-Psychologin, ehemalige Vizepräsidentin und Seniorprofessorin für Theoretische Psychoanalyse und Subjekttheorie an der International Psychoanalytic University Berlin [*]
Hat Neid auch etwas Gutes, kann Neid gesund sein? "Ich sehe Neid immer als ein Ausdruck eines Angriffs auf Beziehungen. Es hat für mich in meiner Konnotation immer etwas Destruktives. Man kann den Begriff sehr weit ausdehnen und dann kommt man in diesen gutmütigen Bereich. Die Frage ist aber: haben wir es dann wirklich noch mit Neid zu tun?"
Neid kann zu Anfeindungen führen. Für Gast beginne die Judenverfolgung, jede Verfolgung einer sogenannten Minderheit, "die Konstruktion überhaupt von Minderheiten im Grunde genommen mit einem Appell an genau diesen Affekt des Neides. Der Fingerzeig: Schaut her, was die haben, das stünde eigentlich euch zu. Man konstruiert Minderheiten, man konstruiert Ausschlüsse sehr leicht dadurch, dass man Neid hervorruft."
Es geht darum, wer das größere Auto hat
Es gebe kein Leben ohne Neid. "Aber ein Neid, der zu sich kommt, der bewusstseinsfähig und reflektierbar wird, bringt uns im Grunde genommen an unsere eigene Begrenztheit, an die Grenzen unserer Möglichkeiten, und die anzuerkennen, ist wahrscheinlich die größte Aufgabe, die wir als Subjekt zu erfüllen haben." Sie sehe das als eine ethische und gesellschaftliche Aufgabe, den gesellschaftlichen Subjekten einen Raum zu geben, ihre Scham nicht abwehren zu müssen, sondern sich anerkennen zu können und zwar gegenseitig. "Neid ist im Grund genommen eine abgewehrte Scham."
Beim Umgang mit anderen Menschen ginge es nicht um so etwas Banales wie Futterneid, sondern darum, wer das größere Auto hat oder wer bevorzugt wird, wer schon wieder in den Urlaub fährt, beschreibt Gast.
"Neid und Missgunst berühren sich hier sehr stark. Es geht um Anerkennung und die Frage, wo stehe ich im Leben im Vergleich zu anderen".
Wer fürchte, Vorteile zu verpassen, wehre den Neid ab. "Wenn ich alles dafür tue, immer in der Pole Position zu bleibe im Leben, schütze ich mich vor diesem unangenehmen Gefühl. Was sagt der Neid über mich aus? Er sagt, ich fühle mich unterlegen, ich kann nicht mithalten, ich bin übertroffen worden. Das ist für viele sehr schwer aushaltbar."

[* Anm. d. Red.] Anders als zunächst angegeben ist Lilli Gast ehemalige Vizepräsidentin der International Psychoanalytic University Berlin