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Psychologie
Unsere Corona-Geschichte, unsere Corona-Scham

Die New Yorker Psychologin Ramani Durvasola untersucht, woran wir während der Corona-Krise leiden. Manche schämen sich, dass es ihnen noch gut geht. Andere gehen über die Gefühle der anderen hinweg. Narzisstische Tendenzen seien in der US-Gesellschaft gerade jetzt unübersehbar.

Von Andreas Robertz | 13.05.2020
Dr. Ramani Durvasula ist Professorin für Psychologie an der Universität von Kalifornien und praktizierende Psychotherapeutin
Dr. Ramani Durvasula ist Professorin für Psychologie an der Universität von Kalifornien und praktizierende Psychotherapeutin (privat)
"Natürlich gibt es viele tragische Geschichten von Verlust, aber selbst auf der alltäglichen Ebene: vielleicht ein Jugendlicher, der keine Abiturfeier haben wird oder keinen Abschlussball. Dem müssen wir über diesen Verlust hinweghelfen. Oder Eltern, die ihre kleineren Kinder trösten müssen, wenn die wichtige Schulfahrt oder die langersehnten Ferien wegfallen, oder ein Hochzeitspaar, dessen lang vorbereitete Feier nicht stattfinden kann."
Für Psychologin und Therapeutin Ramani Durvasula erleben wir alle gerade unsere Corona-Geschichte. Das verbindet uns mit allen Menschen auf der Welt. Die meisten von ihnen handeln von Verlust und Verunsicherung: Patienten, die um verstorbene Freunde und Familienangehörige trauern, die durch den Verlust der Arbeit oder des eigenen Geschäfts in ihrer Existenz bedroht sind oder die unter Selbstmordgedanken leiden. Aber, so erklärt sie, viele, die in nicht so extremer Form von der Pandemie betroffen sind, erfahren ebenfalls Verlust, schämen sich aber, darüber zu sprechen.
"Menschen schämen sich für ihre Gefühle, weil sie im Vergleich zu anderen so unwichtig erscheinen. Ich rate dringend davon ab, diese Gefühle zu entwerten. Dein Verlust ist dein Verlust, den du auch psychologisch gesehen erfährst."
Moralische Erschöpfung - Warum die Coronakrise ermüdet
Trage ich Maske oder nicht? Darf ich joggen oder nicht? Jeder Schritt wird in Zeiten der Pandemie zu einem großen Thema. Vor allem ist jeder Schritt moralisch aufgeladen. Wir fragen uns ständig: Ist das verantwortlich oder nicht? Das ermüdet uns, sagt eine US-Psychologin.
Es sei sehr wichtig, beschreibt sie, dass jeder einen geschützten Raum findet, diese Gefühle mit Menschen zu besprechen, die durch ähnliche Herausforderungen gehen oder geschult sind, mitfühlend zuzuhören. Soziale Medien seien dafür auf jeden Fall der falsche Ort. Nicht jede Corona-Geschichte handelt von Verlust und Stress:
"Einige fühlen sich schuldig, wenn es ihnen nicht schlecht geht. Sie schämen sich, wenn sie von zu Hause arbeiten können, nicht auf jemanden aufpassen müssen und manchmal mit Freunden in Abstand ein Glas Wein trinken. Sie empfinden so was wie Corona- Scham, wenn ihr Leben trotz allem okay ist."
Narzissten denken nur an sich
Sich das Recht auf die eigenen Gefühle zuzugestehen, sei eine wichtige Lehre dieser Zeit, sagt Psychologin Ramani Durvasula. Doch für sie wird auch die Gesellschaft als Ganzes in völlig neuem Maße herausgefordert. Vor allem von Menschen mit narzisstischen Tendenzen, die glauben, dass Regeln zum Schutze anderer nicht für sie gelten. Das trifft man besonders häufig in der US-amerikanischen Gesellschaft, deren Philosophie von Individualismus und Freiheit im krassen Gegensatz zu einem Gefühl von Gemeingut und Solidarität zu stehen scheint.
"Ein Narzisst denkt immer nur an seine eigenen Rechte und Freiheiten. Ich tue das, was mir gefällt. Ich laufe ohne Maske rum, weil ich keine tragen will. Ich könnte auch behaupten, dass ich Corona schon hatte und es deswegen nicht mehr kriegen kann, was gelogen ist. Ich glaube, die Tatsache, dass wir jetzt diese vielen kleinen Miniepidemien im Land erleben, hat zum großen Teil mit Narzissmus zu tun; Menschen, die nur ihre eigenen Rechte im Sinn haben und uns verkaufen wollen, dass dies dem Gemeinwohl nützt."
Protest gegen die Ausgangsbeschränkungen in den USA: Menschen protestieren vor dem Colorado State Capitol
Protest gegen die Ausgangsbeschränkungen in den USA: Menschen protestieren vor dem Colorado State Capitol (AFP/Jason Connolly)
Zum Beispiel die Forderung, die Wirtschaft unter allen Umständen wieder hochzufahren und Großveranstaltungen wie Gottesdienste und Beerdigungen wieder zuzulassen. Oder, wie eine wachsende Zahl ultrarechter Gruppierungen in den USA, die Quarantänebestimmungen als ein abgekartetes Spiel machthungriger Virologen und dunkler Mächte zu diffamieren. Plötzlich erklärt sich jeder zum Spezialisten. Man propagiert Herdenimmunität und fordert Opfer von anderen für das große Ganze. Dabei ist für Ramani Durvasula nicht jeder Mensch, der sich weigert eine Maske zu tragen, ein Narzisst. Die Abwesenheit von Mitgefühl ist das grundlegende Zeichen dieser Persönlichkeitsstörung.
"Jede Menge Leute werden nicht müde zu behaupten, es gäbe keine Toten. Niemand leide wirklich. Was sind schon über 65.000 Tote? Dabei leiden viele. 65.000 Tote, das sind 65.000 Familien und die Menschen, die diese Familien kennen."
Eine Kultur der Gemeinheit
Die USA stehen Anfang der zweiten Maiwoche mit über 1,3 Millionen Infizierten und mittlerweile knapp 80.000 Toten an der Spitze der betroffenen Länder weltweit. Für Dr. Ramani Durvasula steht diese erschreckende Statistik im klaren Zusammenhang mit narzisstischen Tendenzen, die von einer verantwortungslosen Regierung propagiert werden, von einer Regierung, die von Anfang an die Gefahren bagatellisiert und sich über die Ängste der Bürger lustig gemacht hat. Die Psychologien spricht sogar von einer Kultur der Gemeinheit.
"Diese Atmosphäre der Grausamkeit, Gemeinheit, Geringschätzung und der völligen Abwesenheit von Mitgefühl verstärkt unsere Gefühle von Angst und Sorge um die Zukunft immens. Auf Weltebene sieht man dann die Folgen für unsere geistige Gesundheit. Empfehlungen der Gesundheitsbehörden können unter diesen Umständen kaum noch aufrecht erhalten werden, weil sofort versucht wird, die Glaubwürdigkeit dieser Empfehlungen anzufechten."
Der einzige Weg, mit diesem Stress umzugehen besteht für Psychologin Ramani Durvasula darin, sich das Recht zu nehmen, die eigene Realität zu spüren und harte Grenzen dort zu setzen, wo narzisstische Tendenzen zum Vorschein kommen. Jeden Tag geschehen tausende von Corona-Geschichten, die von Gemeinsamkeit, Mitgefühl und Füreinander-Da-Sein handeln. Wir befinden uns auch mitten in einer Renaissance der Idee des Gemeinwohls, sagt sie hoffnungsvoll. Das dürfe man nicht aus den Augen verlieren.