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Psychologie
Warum Berührungen überlebenswichtig sind

Anfassen, fühlen, tasten, berühren: Der sensorische Sinn wurde in der Forschung lange Zeit unterschätzt. Dabei ist er lebenswichtig. Denn adäquater Körperkontakt ist Voraussetzung für ein gesundes Leben und für den Zusammenhalt in der sozialen Gemeinschaft.

Von Cornelius Wüllenkemper | 26.02.2019
Eine Frau fasst sich mit geschlossenen Augen an die Nase.
Die Haut ist das größte und sensibelste menschliche Sinnesorgan. Auf der Stirn wird bereits ein Druckgewicht von 0,075 Milligramm wahrgenommen (imago stock&people)
Die symbolische Umarmung zwischen zwei politischen Repräsentanten, das jubelnde Menschenknäuel beim Fußball nach dem Torschuss, der tröstende Arm für eine Trauernde oder ein Kind - die Berührung ist weltweit ein menschliches Grundbedürfnis, das die Wissenschaft bisher vernachlässigt hat, meint, Martin Grunwald. Der Professor für Wahrnehmungspsychologie an der Universität Leipzig hält den Tastsinn für überlebenswichtig.
"In der sehr frühen Kindheit sind Körperberührungen sogar elementare Voraussetzung dafür, dass der Säugetierorganismus Mensch überhaupt wächst. Es gibt kein neuronales oder körperlich-zelluläres Wachstum ohne ein adäquates Maß an Körperverformung, sprich Körperberührungen."
Berührungen sind schon vor der Geburt lebenswichtig
Grunwalds Versuche im Haptik-Forschungslabor in Leipzig haben gezeigt, dass befruchtete Eizellen im Mutterleib bereits in der sechsten Schwangerschaftswoche auf Berührung reagieren und so Wachstum stimuliert wird. Auch für Erwachsene spielt die Sensorik eine zentrale Rolle: Rund 900 Millionen Rezeptoren senden in jedem Augenblick Informationen an das Gehirn, ein Vielfaches der Seh- und Höreindrücke. Im Kernspintomographen untersucht Grunwald die durch Berührung ausgelösten biochemischen Vorgänge im Körper und ihre individuelle und soziale Auswirkung.
"Die körperliche Entspannung, die Regulation von Emotionen kann man mit Körperberührung sehr gut hinbekommen, und wir haben eine ganze Reihe positiver Immunreaktionen, die nur und ausschließlich durch Köperberührung stimuliert werden. Insofern denke ich, dass wir auf Körperkontakt auf der individuellen Ebene für ein gesundes, menschliches Leben angewiesen sind. Aber ohne Körperkontakt angemessener Art in gesellschaftlichen Kontexten geht es eben auch nicht gut, das ist auch das Zusammenleben, was damit teilweise positiv reguliert wird."
Untersuchungen haben etwa gezeigt, dass Kellner und Kellnerinnen, die ihren Gast vor dem Bezahlen kurz leicht berühren, durchweg mit einem höheren Trinkgeld rechnen dürfen. Bereits ein leichtes Schulterklopfen vor der Prüfung verringert den Blutdruck und das Stresslevel bei Studierenden messbar.
Berührungen werden gesellschaftlich unterschätzt
Die Haut ist mit zwei Quadratmetern Oberfläche das größte und sensibelste Sinnesorgan. Auf der Stirn wird bereits ein Druckgewicht von 0,075 Milligramm wahrgenommen. Menschen ertasten Unebenheiten im Mikrometerbereich, die mit dem Auge nicht wahrgenommen werden. Reiner Delgado, Sozialreferent des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes, ist überzeugt, dass Berührung gesellschaftlich unterschätzt wird.
"Wenn ich Gemüse einkaufe, würde das jemand Sehendes womöglich nicht mehr nehmen, weil das nicht mehr danach aussieht, für mich sich aber ok anfühlt und ich das mit Genuss esse. Und umgekehrt gibt es Dinge, dich ich nicht mehr essen würde, die aber noch gut aussehen. Und da gibt es viele andere Beispiele. Es gibt Sachen, die fühlen sich sauber an, die sehen aber nicht sauber aus, und umgekehrt auch, die sehen sauber aus, fühlen sich aber nicht sauber an."
Maschinen können menschliche Sensorik bislang nicht imitieren
Nicht nur Produktdesigner und Marketingstrategen nutzen das Fühlen für ihre Zwecke. Auch an der sensorischen Kommunikation zwischen Mensch und Maschine wird geforscht, wie etwa bei der flauschigen und lernfähigen Roboter-Robbe Paro. Der in Japan entwickelte Therapie-Roboter verfügt über Tastsensoren und reagiert auf Berührung.
In der Altenpflege wird Paro bereits zur Behandlung von Demenzpatienten eingesetzt. Elisabeth André, Professorin für Multimodale Mensch-Technik in Augsburg, hat sich auf die Erforschung sozial interaktiver Pflegeroboter spezialisiert.
"Wenn es den Leuten guttut, und es tut ihnen nachweislich gut, dann denke ich, ist das ein sehr gutes Mittel. Niemand regt sich auf, wenn ich zum Beispiel jemandem ein Stofftier in den Arm lege und derjenige sich drüber freut. Der einzige Unterschied zu dieser Robbe ist, dass die Robbe auf Berührung reagiert, also sie ist interaktiv. Sie hat bessere Kommunikationsfähigkeiten als ein normales Plüschtier."
Der Weg zur authentischen sensorischen Interaktion zwischen Mensch und Maschine ist noch sehr weit. Elisabeth Andrés Untersuchungen zeigen, dass ein Roboter bisher nicht in der Lage ist, von biosensorischen Parametern wie Herzschlag, Leitfähigkeit der Haut, Temperatur und Vibrationen auf die Gefühlslage eines Menschen zurückzuschließen. Das Spektrum der menschlichen Sensorik können Maschinen bisher nicht imitieren.