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Psychotechnik und Radiophonie. Subjektkonstruktionen in artifiziellen Wirklichkeiten 1918-1932.

Auf den ersten Blick scheinen Titel und Themen von Schrages Buch Unvereinbares zusammendenken zu wollen, nämlich Psychotechnik, d.h. die Instrumentalis! erung einer humanwissenschaftlichen Disziplin zu beruflichen Eignungstests, und die Anfänge des Mediums Radio.

Bernd Mattheus | 19.08.2002
    Was die "artifiziellen Wirklichkeiten" anbelangt, so ist in dieser auf die 20er Jahre bezogenen Studie damit selbstredend nicht die virtual reality des digitalen Zeitalters gemeint, sondern im allgemeineren Sinne "technische Umwelten der industriellen Produktion." Nicht allein, dass sich Psychotechnik und Radiophonie in etwa zeitgleich etablieren demonstriert der Autor, ihm geht es darüber hinaus um den Beleg der These, dass eine Sozialtechnologie - in Form angewandter Psychologie - wie auch ein innovatives Medium jeweils künstliche "Räume der Normalisierung und der Radiophonie" erzeugen und somit Ausgangspunkt für "neuartige soziale Wirklichkeiten" sind.

    Die Psychotechnik der 20er Jahre strebte die Vermessung des Menschen im Hinblick auf seine Fähigkeiten, seine Nützlichkeit an. Ziel dieser Sozialtechnik wäre laut Schrage weniger die Normalisierung, die disziplinierende Konditionierung des Einzelnen, sondern vielmehr eine mittels Tests und Statistiken operierende Orientierungshilfe - sei es für Berufsanfänger, sei es für Kriegsverletzte. Ziel ist das optimale Mensch-Maschinen-Ensemble. In Schrages Optik schlägt freilich die Radiophonie alle Psychotechnik um Längen, vermag sie doch "das subjektive Erleben ganzer Bevölkerungen" anzusprechen. Das frühe Radio wird als "profilierteste Technologie zur Produktion und Regulierung von Subjekteffekten herausgestellt. Gehörte die Telegraphie noch zur Ära des Lesers, der einen Text zu entziffern hatte, so läutete die Telephonie die Epoche des Hörers ein, der, vereinfacht betrachtet, nur noch Sinnesreize zu verarbeiten hatte, welche subjektives Erleben hervorzurufen vermögen. Der Faktor Sinnlichkeit wird relevant. Bereits der Fern-Sprecher "ermöglicht Subjekteffekte, die den Erfahrungsraum der telefonierenden Individuen erweitern." Merkwürdigerweise störte es offenbar bis heute die Benutzer nicht sonderlich, ihre Gesprächspartner nicht sehen zu können, denn das marktreife Bildtelefon setzte sich nicht durch. Da jede avancierte Technologie militärisch vereinnahmt wird, fanden die ersten Übertragungen von Sprache und Musik vor sowie während des l. Weltkriegs statt, von den Funkern über die obligatorischen Kopfhörer empfangen.

    In Deutschland wurde das erste Rundfunkprogramm am 29. Oktober 1923 gesendet. Voller Selbstbewusstsein richtete sich das jüngste Massenmedium in seiner ersten Stunde "an alle". Zwar beschränkte sich die Programmgestaltung zunächst auf die Übertragung von Vorträgen, Konzerten und Bühnenstücken, die wesentlichste Zäsur bestand jedoch in dem, was McLuhan in den 60er Jahren "the medium is the message" nennen sollte: eine neue Sozialbeziehung entsteht, die Schrage als "'unmittelbar' und zugleich hoch abstrakt" bezeichnet. Indem der Rundfunk die Sphäre des Öffentlichen mit derjenigen des Privaten verknüpft, erschafft er eine neuartige Wirklichkeitsdimension", den "akustischen Raum". "Das Radio", führt der Autor weiter aus, "ist eine Medientechnologie, die erstmals eine simultane und potentiell gesellschaftsweite Übertragung akustischer Sinnesreize möglich mach. Mit technischen Mitteln können sinnliche Wahrnehmungen hervorgerufen werden, die von den Begrenzungen des körperlichen Nahraums entkoppelt sind/Dieser technische Zugriff auf das physiologische Organ Ohr ermöglicht eine neuartige Weise medialer Rezeption und konstituiert einen artifiziellen Erfahrungsraum (...)."

    Wenn Schrage die frühen kulturkritischen Einsprüche wider das neue Medium referiert, fühlt man sich an aktuelle Debatten erinnert, bei denen das Selbstverständnis elektronischer Medien in Frage steht. Wollen sie Amüsiermaschinen oder aber Kulturfaktor sein? Inwiefern konditionieren sie die Massen? 1924 heißt es bereits: "Die Technik greift selbständig und herrisch in die Gebiete der Kunst." Ein anderer Warner befindet: "Weiter kann die "Vergesellschaftung unseres geselligen Lebens, unserer Ruhestunden, unseres Heims mehr getrieben werden." Aus soziologischer Perspektive bemängelte 1930 Leopold v. Wiese am "Rundfunkkontakt" das fehlende dialogische Element, femer die Reizüberflutung sowie generell das niedrige Niveau der Programme. Mehr noch machte er das Radio für die "Fragmentierung von Gesellschaft und Individuum" verantwortlich. Gleichzeitig erblickte er aber auch in dem Medium ein Mittel, den konstatierten Prozeß der Atomisierung der Gesellschaft umzukehren. Diese Einsicht wird die Nationalsozialisten den "Volksempfänger" subventionieren lassen, denn des "Führers" Stimme sollen mehr als die bisher etwa 10 Millionen deutschen Hörer empfangen können.

    Ende der 20er Jahre entwickelte sich das Hörspiel zum eigenständigen Genre, das sich vom Funkspiel, dem "akustischen Film" absetzt. Sprache, Musik, Geräusche machen den virtuellen, artifiziellen akustischen Raum aus, den der Hörer als "fiktionale Wirklichkeit sinnlich erlebt." Jene veränderte ästhetische Praxis führt Schrage zusammen mit den synchron erfolgten Hörerumfragen in Österreich. 1931/32 werden Hörerprofile erstellt - die Sendeanstalten interessieren sich für den .'Anonymus Publikum'. Dominik Schrage scheint mir die Macht des Mediums Rundfunk gelegentlich zu überschätzen. Zwar trifft die auf Freiwilligkeit, Interesse und gutem Willen beruhende offene Relation zu: "Die Vorstellungswelt der vielen Hörenden und die ästhetisch-technischen Gestaltungsmittel am Mikrofon treten in Konstellation." Heißt es aber bezüglich des Radios: "Der simultane Empfang ermöglicht psychische Synchronisierung, indem auf die Aktualität in der Hörerpsyche eingegangen wird.(...) Hier erscheint (...) ein Zugriff auf Subjektivität in Permanenz möglich" - so ignoriert der Philosoph die Souveränität des Medien-Nutzers. Die Brave New World ist nur vorstellbar unter permanentem Empfang eines einzigen Mediums, zu dem es keine Alternative gäbe und dem man sich zudem nicht verschließen könnte, indem man ganz einfach den Aus-Schalter betätigt.

    Folglich haftet Schrages Fazit etwas an, das die Vorstellung vom selbstbestimmte". Subjekt verabschiedet: "Artifizialität wäre nicht nur Modus technischer Verfahren oder fiktionaler Entwürfe, sondern auch der Existenzmodus dessen, was ,Ich' ist und - sein könnte."