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Publizierte medizinische Studien
Die Hälfte der Nebenwirkungen wird verschwiegen

Nicht einmal die Hälfte der in klinischen Studien dokumentierten Nebenwirkungen von neuen Medikamenten wird publiziert. Zu diesem beunruhigenden Ergebnis kommen britische Forscher in einer neuen Untersuchung. Ein Ergebnis, das viele Fragen aufwirft und auf ernste Gefahren aufmerksam macht.

Von Christine Westerhaus | 03.11.2016
    Die Kamera ist auf die Medikamente im Regal im Vordergrund eingestellt. Die Frau und der Rest des Regales sind unscharf.
    Die pharmazeutisch-technische Assistentin Christiane Chust stellt Medikamente für die Stationen am 14.07.2015 in der Krankenhausapotheke am Universitätsklinikum Leipzig (Sachsen) bereit. (dpa-Zentralbild)
    Bei vielen Krankheiten steht der Arzt vor der Entscheidung, ob er seinem Patienten Medikamente verschreiben soll, oder nicht. Er muss den Nutzen einer Therapie abwägen gegenüber den Nebenwirkungen.
    Doch genau das ist häufig ein Problem, sagt Yoon Loke, der an der Universität von East Anglia in Großbritannien arbeitet. Gerade bei neuen Medikamenten hätten Ärzte, aber auch die Zulassungsbehörden, die Medikamente zulassen, oftmals nur ein unvollständiges Bild vom Nutzen der Therapie. Denn nur weniger als die Hälfte der Nebenwirkungen, die in klinischen Studien auftreten, werden tatsächlich publiziert.
    Ein großes Problem
    "Wir haben seit Langem vermutet, dass dies ein großes Problem ist. Aber wir kannten das Ausmaß nicht. Deshalb haben wir uns die Ergebnisse klinischer Studien besorgt, die nicht veröffentlicht wurden und haben sie mit publizierten Untersuchungen verglichen, in denen der gleiche Wirkstoff getestet wurde. Dabei kam heraus, dass nur ein Teil der auftretenden Nebenwirkungen tatsächlich veröffentlicht wird.
    Wir finden das sehr bedenklich, denn um die beste Therapie für einen Patienten auswählen zu können, müssen wir genau wissen, welche Schädigungen auftreten können."
    Für ihre Untersuchung haben sich Yoon Loke und seine Kollegen 28 klinische Studien genauer angesehen, in denen Wirkstoffe oder medizinische Behandlungsmethoden getestet wurden. Sie haben die Protokolle dieser Untersuchungen analysiert, Konferenzberichte studiert, mit Experten gesprochen und Datenbanken im Internet durchforstet.
    Unsichtbare Nebenwirkungen
    Dabei kamen sie zu dem Ergebnis, dass nicht einmal die Hälfte der Nebenwirkungen, die bei den Teilnehmern klinischer Studien aufgetreten waren, tatsächlich publiziert wurden.
    64 Prozent der unerwünschten Begleiterscheinungen waren nur aus unveröffentlichtem Material, Konferenzberichten oder aus anderen Quellen ersichtlich. Für behandelnde Ärzte aber auch für die Zulassungsbehörden sind diese Daten damit unsichtbar, so Yoon Loke. Es sei viel zu aufwändig, sich diese Informationen zu beschaffen.
    "Das Wichtigste ist, dass diese Informationen öffentlich zugänglich gemacht werden, damit Mediziner ein komplettes Bild von der Wirksamkeit einer Behandlung erhalten. Offenbar ist dies ein generelles Problem, das nicht nur in Europa, sondern auch in den USA und in Kanada auftritt.
    Darüber sollten sich Regierungen, aber auch behandelnde Mediziner bewusst werden und es sollte alles dafür getan werden, dass Studienergebnisse transparenter und besser zugänglich gemacht werden."
    Bevor Arzneimittel auf den Markt kommen, werden sie von der zuständigen Behörde zugelassen. Die Arzneimittelhersteller müssen nachweisen, dass das Medikament wirkt und unbedenklich ist.
    Oftmals werden jedoch wichtige Informationen in den eingereichten Unterlagen verschwiegen, kritisiert Karsten Juhl-Jörgensen, der bei der Cochrane-Organisation arbeitet. Diese unabhängige Institution analysiert die Ergebnisse klinischer Studien und setzt sich dafür ein, dass alle Daten aus medizinischen Untersuchungen veröffentlicht werden müssen.
    "Wir haben ähnliche Untersuchungen gemacht und gesehen, dass manchmal wirklich ernsthafte Nebenwirkungen nicht in die Auswertung von Studienergebnissen einfließen. In einer Studie beispielsweise, es ging um die Wirkung eines Antidepressivums, hatte eine Versuchsperson versucht, sich umzubringen. Dieser Teilnehmer war dann einfach aus der Studie ausgeschlossen worden. Das Problem ist, dass sich klinische Studien auf die Wirkungen einer getesteten Substanz konzentrieren, und nicht auf die Nebenwirkungen. Und das führt dazu, dass Medikamente verschrieben werden, ohne dass Ärzte alle Nachteile kennen."
    Der Fehler steckt im System
    Der Fehler stecke im System, meint Karsten Juhl-Jörgensen. Es sei höchst problematisch, dass in der Pharmabranche profitorientierte Unternehmen die Sicherheit ihrer eigenen Produkte testen dürfen. In jedem anderen Wirtschaftszweig wäre das undenkbar.
    "Wenn wir ein Produkt getestet haben wollen, möchten wir eine unabhängige Untersuchung. Wenn Samsung zum Beispiel die Qualität seiner eigenen Smartphones testet, würden wir dieser Untersuchung nicht trauen.
    Aber wenn es um Medikamente geht, bei denen kleine Fehler über Leben oder Tod vieler Patienten entscheiden können, akzeptieren wir, dass die Hersteller selber die Sicherheit ihres Produkts testen dürfen. Das ist paradox! Es passiert häufiger, dass Medikamente wieder vom Markt genommen werden, weil die Nebenwirkungen zu stark sind. Und ein Grund dafür ist, dass die Regulierungen für klinische Studien viel zu leicht ausgenutzt werden können."