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Publizistin Alice Schwarzer
"Wenn wir Frauen uns einig werden, wäre Feminismus kein Thema mehr"

Sie ist das berühmteste Gesicht der deutschen Frauenbewegung: Im Zeitzeugen-Interview spricht Alice Schwarzer über ihre Kindheit in chaotischen Familienverhältnissen, über prägende Jahre in Paris, ihre Rolle als Feministin und über Konflikte mit Frauen.

Dittrich, Monika | 26.08.2021
Alice Schwarzer im Frauenmuseum in Köln
Es mache unheimlich Spaß, sich anzugucken, was Frauen in den letzten Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten alles geleistet haben, sagte Alice Schwarzer. (picture alliance/ dpa / Oliver Berg)
Feministin ist keine Berufsbezeichnung. Doch oft genug wird sie genau so vorgestellt: Alice Schwarzer, die Pionierin der deutschen Frauenbewegung. Von Beruf aber ist Alice Schwarzer Journalistin, Buchautorin und Verlegerin. Sie kam 1942 in Wuppertal zur Welt, als Tochter einer ledigen Mutter, aufgewachsen ist sie bei den Großeltern. Ende der 60er-Jahre ging sie als freie Korrespondentin nach Paris und engagierte sich dort in der Frauenbewegung.
1971 initiierte sie nach französischem Vorbild die Stern-Titelgeschichte "Wir haben abgetrieben", der Durchbruch für die Frauenbewegung in Deutschland – und auch für Alice Schwarzer. Sie machte sich einen Namen als streitbare Kämpferin in Talkshows, als Buchautorin und nicht zuletzt als Gründerin der feministischen Zeitschrift "Emma", die 1977 zum ersten Mal erschien und deren Herausgeberin und Chefredakteurin Schwarzer bis heute ist. Alice Schwarzer ist verheiratet mit der Fotografin Bettina Flitner.

Eine unerwünschte Geburt und ein mütterlicher Mann

Monika Dittrich: Alice Schwarzer, Sie sind im Dezember 1942 zur Welt gekommen, für Ihre Mutter, damals 22 Jahre alt und ledig, war es eine unerwünschte Geburt, wie Sie selbst geschrieben haben. Aufgewachsen sind Sie dann bei Ihren damals noch relativ jungen Großeltern. Ihren Großvater beschreiben Sie als mütterlichen Mann. Was war das für ein Mann?
Alice Schwarzer: Also, ich bin Ende '42 geboren, und wir sind dann ziemlich rasch in Wuppertal ausgebombt worden. Mein Großvater hatte einen kleinen Laden, Zigaretten und Zeitschriften und so weiter, er war aber, glaube ich, dann 45 Jahre und war zu alt, um eingezogen zu werden, aber hatte auch keine Existenz mehr. Dann waren wir evakuiert auf dem Land. Dann hat es ihm große Freude gemacht, sich um mich zu kümmern, auch richtig mich zu wickeln und zu ernähren. Zu meinem Glück hat ihm das große Freude gemacht, weil meine Mutter war weg, meine Großmutter hatte gar keine großen Ambitionen, die hat sich erst für mich interessiert, als sie mit mir reden konnte.
Er hatte da wahrscheinlich auch so ein gewisses emotionales Nachholbedürfnis in dieser durchaus interessanten, aber sehr anstrengenden Ehe. Und die hat ihn darin bestärkt, sie hat mir später noch immer erzählt, also der Papa, ich sagte Papa und Mama zu den Großeltern, der Papa hat sich ja angestellt mit dir, bei jedem Sonnenstrahl hat er dich raus auf den Hof getragen. Und die jungen Mütter im Dorf, die kamen ja, um ihn um Rat zu fragen, wie er deine Breichen macht und so weiter. Sie hatte diese mütterliche Seite an ihm sehr bestärkt, weil sie dazu keine Lust hatte. Er war natürlich ein, das kann man sich dann vorstellen, sehr sanfter, sehr offener Mann mit sehr viel Humor, ein bisschen absurdem Humor, er war einfach ein Mensch.
Dittrich: Wie hat das ihre eigene Emanzipationsgeschichte beeinflusst, dass Sie aufgewachsen sind bei einem Mann mit weiblichen Elementen?
Schwarzer: Natürlich ganz entscheidend, darüber habe ich früher natürlich nie nachgedacht, aber im Rückblick, wenn ich sozusagen mit einem analytischen Blick auf mein eigenes Leben gucke, was ich ja tun musste, als ich zweimal eine Autobiographie geschrieben habe, ist ja ganz klar, bei meinen Großeltern gab es eine gewisse, relative, partielle Rollenumkehrung. Der Mann war mütterlich, sie interessierte sich für Politik, wobei sie war zu ihrem extremen Widerwillen Hausfrau, das hat niemandem gut getan, nicht uns und nicht ihr.
Wir hätten sie besser in die Welt geschickt, da hätte sie Großes geleistet, so hat sie ein bisschen die Familie tyrannisiert aus Frustration. Es ist natürlich nicht unkomisch, dass die Feministin Alice Schwarzer mit einem sehr fürsorglichen Mann und einer anstrengenden Frau aufgewachsen ist. Und für mich heißt das ganz einfach, für mich war ganz selbstverständlich, dass Männer Menschen sein können und dass Frauen auch intelligent und politisch sein können.

"Ich war die Außenministerin in meiner Familie"

Dittrich: Sie war der politische Kopf in der Familie…
Schwarzer: Das kann man so sagen, sie war extrem anti-nationalsozialistisch, sie hatte auch in der Nazizeit schon doch einige Menschen durchgefüttert, zwölf Jahre lang nicht Heil Hitler gesagt, in Läden, die als jüdisch gebrandmarkt wurden, eingekauft und sich dafür von der SS ohrfeigen lassen. Das sind so kleine Sachen, die wurden bei uns nicht als Heldentaten berichtet, hätten wir auch nicht gefunden, dass das Heldentaten sind, aber das waren so Familienanekdoten. Ja, und meine Großmutter war dann nach 1945 sehr frustriert, dass mit den Nazis, wie sie sagte, nicht etwa aufgeräumt wurde, sondern dass sie dieselben Nazis im Rathaus weiter traf und so weiter.
Das hat uns ein bisschen, das ist sicherlich auch sehr markierend für mein Leben, das hat uns ein bisschen zu Außenseitern gemacht. Das war nach 1945 nicht schick, Anti-Nazi zu sein. Hinzu kam die nicht sehr ordentlichen Familienverhältnisse, unehelich, Mutter weg, sodass ich eine gewisse Randständigkeit gewöhnt war und mir angewöhnt hatte, sozusagen zwischen meiner Familie und der Welt zu vermitteln. Ich war so etwas wie die Außenministerin in meiner Familie.
Dittrich: Wurde in dieser Familie, in der politisch diskutiert wurde, mit dieser Großmutter mit dem klaren politischen Verstand, wurde da auch schon über Frauenthemen gesprochen, Frauenrechte, Gerechtigkeit?
Schwarzer: Das ist mir erst jetzt klar geworden richtig, dass Frauen bei uns kein Thema waren. Wir redeten über alles, meine Großmutter war politisch extrem weitsichtig und klarsichtig, ich staune heute noch, und über Politik debattieren, auch über Weltpolitik, das war am Kaffeetisch selbstverständlich. Aber Frauen, interessant, nein, das war keine Kategorie. Zum Beispiel in den späten 50er-Jahren haben wir die erste Ministerin bekommen, Frau Schwarzhaupt, Gesundheitsministerin bei der CDU – und das nach langen Kämpfen der CDU-Frauen. Ich weiß nicht, das ist bei uns noch nicht mal erwähnt worden. Nun war meine Großmutter nicht sehr CDU-freundlich, aber trotzdem, das ist doch völlig egal, das war die erste Frau im Kabinett. Und auch ich habe das nicht bemerkt. Sie müssen sich das so vorstellen, dass meine Generation, die wir in den Trümmern aufgewachsen sind, oft keine Väter hatte, Frauen, Mütter, die ihren Mann gestanden haben, das man zwar so gelebt hat und dass man dann, als man plötzlich ein richtiges Mädchen werden sollte, nicht die Knie zusammenschieben, nicht die Beine übereinanderschlagen, höflich lächeln und so weiter, dass man zwar ein Unbehagen hatte und irgendwie dachte, was soll der Quatsch, aber man hatte keine Worte dafür. Für unser Unbehagen über die Einengung und die Frauenrolle gab es keine Begriffe, die kamen erst mit der Frauenbewegung.

"Und Paris brodelte"

Dittrich: Ihr Werdegang als Journalistin, Verlegerin, Buchautorin, Fernsehmoderatorin und, ja, auch intellektuelle Wortführerin der Frauenbewegung, dieser Weg war ja überhaupt nicht vorgezeichnet. Es wurde zwar intellektuell und politisch diskutiert in Ihrer Familie, das haben Sie beschrieben, aber es waren ja eben doch kleine Verhältnisse. Sie haben die Volksschule besucht, dann eine Handelsschule, Sie haben eine kaufmännische Lehre in einem Betrieb für Autoersatzteile begonnen, ich glaube, Sie haben mal in einem Interview gesagt, das war eine kleine Klitsche. Wie kamen Sie von dieser kleinen Klitsche zum Journalismus?
Schwarzer: Ich war nur aus Versehen in der kleinen Klitsche, meine Schulzeit war sehr chaotisch, so wie meine Familienverhältnisse, es hatte natürlich etwas damit zu tun. Irgendwann stand ich ein bisschen vor der Wand. Ich wollte ja Innenarchitektin werden, und dann gab es aber bei der Schreinerei, die ich gefunden hatte, die ich vor der Schule machen musste, keine Damentoilette, das ist ein richtiger Witz. Dann dachte ich, was mache ich jetzt, irgendwie hat sich die ganze Sache verfahren – und keine Förderung von zu Hause, das muss man sagen.
Dann bin ich aus Verlegenheit ins Büro gegangen, wie man sagte, weil ich nicht wusste, was ich tun soll. Da war ich aber sehr unglücklich. Ich weiß noch, mein erster Chef konnte kein richtiges Deutsch, und ich versuchte immer, diskret die Briefe zu verbessern, die er mir diktierte, das durfte er aber nicht merken, dann kriegte er einen Zorn. Nein, das war klar, dass das nicht lange geht. Dann habe ich etwas gemacht, das, glaube ich, ziemlich frauentypisch ist, ich habe immer die Branchen gewechselt, in der Hoffnung, nun wird es interessanter: von den Autoersatzteilen in ein Marktforschungsinstitut in Düsseldorf, das war damals noch ganz neu und Avantgarde, von da in einen literarischen Verlag in München.
Aber ich bin immer an dieser verhassten Schreibmaschine kleben geblieben, auf der ich heute noch aus Trotz sehr viele Tippfehler mache. Und irgendwann gab es so ein kleines Erweckungserlebnis, ich ging mit einem Freund aus, der traf einen anderen Freund, der erzählte, dass er auf der Münchener Journalistenschule ist. Und abends lag ich im Bett und dachte, das kann doch nicht wahr sein, das kann einfach nicht wahr sein, wieso ist der auf der Journalistenschule, und was mache ich da? Denn das war klar, ich war natürlich immer die Beste in Aufsätzen und dass ich schreiben konnte und so weiter.
Und dann habe ich einen Plan gemacht, den habe ich minutiös eingehalten. Ich bin nach Paris gegangen, ich habe Französisch gelernt, ich habe die Welt kennengelernt, dann habe ich mich auf der Journalistenschule beworben, von 800 durften 18 kommen, dabei war ich. Dann habe ich es geschafft, durch die Mündliche zu fallen, inzwischen aber hatte ich auch Probearbeiten geschrieben, Reportagen, Rezensionen, und es war irgendwie klar, ich kann das. Und dann habe ich mir einen Volontärplatz erkämpft, das war natürlich ungewöhnlich. Schon damals musste man eigentlich ein Studium haben für den Beruf, reden wir nicht von keinem Abitur, aber der gute Herr Dr. Eich bei den "Düsseldorfer Nachrichten" hat mein Talent erkannt und mich dann angestellt. Ich war damals die einzige Frau unter acht Volontären.

Arbeitskämpfe, emanzipierte Mode, Post-68er-Themen

Dittrich: Also dann das Volontariat bei den "Düsseldorfer Nachrichten", da hat es Sie aber ja nicht lange gehalten, Sie sind dann auch sehr bald wieder zurück nach Paris gegangen als politische Korrespondentin.
Schwarzer: Ja, aber da war ich dann doch vorher Reporterin bei "Pardon", was damals die Hochburg der 68er war – zusammen mit "Konkret". Ich war die Nachfolgerin von Wallfraff übrigens. Aber in der Tat, nach einem knappen Jahr bin ich dann nach Paris gegangen, bei "Pardon" hatte ich natürlich schon einige aufregende Reportagen gemacht. Nach Paris bin ich gegangen, weil ich ein bisschen enttäuscht war damals von diesem linken Milieu, die fand ich genauso spießig und machohaft wie die anderen.
Dittrich: Inwiefern waren die spießig und machohaft, was war das?
Schwarzer: Das war die Zeit, wo die Männer immer dachten, man muss ihnen zur Verfügung stehen, man muss mit ihnen schlafen, wenn man das nicht tat, dann wurde gesagt, man ist ein Dörrstrumpf und frigide. Aber ich hatte nun keinen Anlass, mit einem meiner Kollegen zu schlafen, in diesem Bereich bin ich eh zurückhaltend, aber ich hatte einen Lebensgefährten in Paris, mit dem ich äußerst zufrieden war. Das ist natürlich mit ein Grund gewesen, warum ich zurückgegangen bin nach Paris 1969 – zu meinem Glück. Weil das war die Zeit nach '68, Paris brodelte.
Kein einziger der dortigen etablierten Korrespondenten beschäftigte sich mit diesen neuen Themen, die gingen zum Élysée und machten die übliche Berichterstattung. Und ich warf mich dann darein in die Folgen von '68 und war dann sehr schnell natürlich eine gefragte, freie Journalistin. Ich habe viel für den Funk gearbeitet, eigentlich am allerliebsten, das ist mein liebstes Medium. Dann auch für Print, manchmal "Spiegel" oder "Stern" und so weiter. Also, ich hatte da meinen Platz gefunden und berichtete über die Arbeitskämpfe, über die Reform der Psychiatrie, über die neue, emanzipierte Mode, die Raumfahrer-Mode oder Yves Saint Laurent in den Anzügen für Frauen, aber das weniger, also das nur unter diesem Aspekt, aber über diese ganzen Post-68er-Themen.
Dittrich: Und dann trafen Sie dort auch auf die Frauenbewegung, die es ja in Deutschland in dieser Art noch gar nicht gab. Warum waren die Französinnen da früher dran, waren die wütender als die deutschen Frauen?
Schwarzer: Ja, nein, das muss man umgekehrt sagen, die deutschen Frauen waren ungewöhnlich spät dran. Es gab schon die Frauenbewegung in Amerika, es gab in Holland die Dolle Minas, die machten so Wildpinkeln und solche Sachen – aus Protest dagegen, dass es keine Frauentoiletten gab und so. Und ich war ein Teil der ersten Pionierinnen. In dieser Zeit war das so, dass ich mir, ich habe ja noch nebenher, soweit ich Zeit hatte, in Vincennes studiert, die rote Fakultät, wo man ohne Abitur studieren durfte. Da war einfach alles Foucault und so weiter, also da kriegte man ungeheuer viele Impulse.
Ich erinnere mich, wie ich im Frühling 1970 da stand neben einer Kommilitonin am Brunnen und zu ihr gesagt habe, Mensch, das wäre doch toll, wenn wir hier in Frankreich so etwas hätten wie ein Frauenbewegung. Und kaum hatte ich den Rücken gedreht und kam zurück aus Köln, wo ich dann Sendungen aufgenommen habe, erfuhr ich, die haben protestiert, die Frauen in Vincennes, da hatten die so eine Demo gemacht mit Schildern, wo sie sagten, wir sind alle hysterisch, wir sind alle frustriert, wir sind alle lesbisch. Das war die provokante Antwort auf die ewige Anmache von den Jungs.
Und die habe ich dann aufgespürt, da waren wir erst ein Dutzend im September 1970, ich sehe uns noch beim ersten Treffen, und dann ist das innerhalb weniger Wochen explodiert, da waren wir schon ein paar Hundert. Das war natürlich wahnsinnig inspirierend, weil die französische Frauenbewegung war sehr anarchisch. Und es waren sehr viele Kreative auch dabei, und wir haben dann richtig losgelegt.

Freundschaft mit Beauvoir und Sartre

Dittrich: Welche Rolle spielte Ihre Begegnung mit dem Philosophenpaar Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre?
Schwarzer: Natürlich habe ich Beauvoir gelesen – wie meine ganze Generation –, früh gelesen, ich weiß gar nicht genau wann …
Dittrich: "Das andere Geschlecht" …
Schwarzer: "Das andere Geschlecht", Mitte der 60er. Und ohne dieses Buch hätten wir ja nie so weit gehen und denken können, das ist natürlich ein Meilenstein. Ich habe auch Sartre gelesen und geschätzt, und es war ja auch so ein Paarmodell, freie Liebe, nicht dieselbe Wohnung, sich politisch einmischen, etwas riskieren – das fand man natürlich rasant. Lustigerweise habe ich vor Beauvoir Sartre kennengelernt. Ich habe mit ihm 1970 ein Interview gemacht zur Frage der revolutionären Gewalt, also wie legitim ist das, darf man Sachen zerstören, darf man Menschen töten und so weiter.
Und wie ich Sartre interviewte, tauchte Beauvoir auf. Das war im Sommer, ich hatte ein Mini-Kleid an, und wie Beauvoir reinkam, ich war Ende 20 und blond, wie Beauvoir reinkam und einen Blick auf mich warf, Sartre hatte ein Ein-Zimmer-Wohnung, wurde mir plötzlich bewusst, um Gottes willen, mein Mini-Kleid geht überhaupt nur bis zum halben Schenkel, was soll die jetzt denken, dass der trottelige Sartre sich da von der Blondine und so … Entsprechend frostig war diese Begegnung auf der Seite von Beauvoir. Und wenig später sind wir uns dann in der Frauenbewegung begegnet. Ich habe zu dem kleinen Kreis gehört, mit dem sie politisch auch sympathisiert hat, und ich habe dann ja auch eine Serie von Interviews mit ihr gemacht und habe sie auch porträtiert fürs Fernsehen und so weiter. Also, wir haben uns dann angefreundet.
Und natürlich ist es ein großes Vergnügen, mit Beauvoir und Sartre befreundet zu sein, ich habe auch viel von ihnen gelernt, einfach ihre Neugierde und ihre Bescheidenheit – sie waren wahnsinnig bescheiden, haben überhaupt nicht Beauvoir und Sartre gespielt, haben sich immer für junge Leute interessiert, es konnte ihnen gar nicht jung und frech genug sein. Und Beauvoir ist ja dann zu einer Begleiterin sozusagen der Frauenbewegung geworden. Auch da, wenn man sich getroffen hat, man hat Aktionen diskutiert und so, Beauvoir war immer die Radikalste.
Dittrich: Als Ihre Großeltern starben, ich glaube, es war 1970, Sie waren Korrespondentin in Paris, waren die stolz auf Sie, konnten die schon einschätzen, auf welchen Weg Sie sich da gemacht hatten?
Schwarzer: Da rühren Sie an meinen größten Kummer. Sie haben die Anfänge noch mitbekommen, sie haben mich im Radio gehört, WDR und so, sie wussten, ich lebe in Frankreich, sie kannten meinen Lebensgefährten, aber ich hätte natürlich eigentlich auch ihnen später mal das Leben finanziell erleichtert, das ging nicht.

Errungenschaften, Erfolge, Erwartungen

Dittrich: Frau Schwarzer, vor 50 Jahren, 1971, Sie lebten damals also als Korrespondentin in Paris, da haben Sie nach französischem Vorbild eine Titelgeschichte im "Stern" initiiert, die heute als Meilenstein der deutschen Frauenbewegung gilt: "Wir haben abgetrieben" hieß es auf der Titelseite. Das war ein Bekenntnis von insgesamt 374 Frauen, die erklärten, dass sie gegen den Paragraphen 218 und damit gegen das Abtreibungsverbot verstoßen hatten. Das Titelblatt kann man, glaube ich, im Haus der Geschichte in Bonn anschauen. War Ihnen das damals klar, dass Sie mit dieser Aktion Geschichte schreiben würden?
Schwarzer: Nein, in solchen Kategorien denkt man, glaube ich, grundsätzlich nicht – und ich schon gar nicht. Mir war natürlich klar, ich hatte ja die Reaktionen in Frankreich mitbekommen, das hat ja weltweit Wellen geschlagen, das war ja ein Zufall. Es hatte mich ja der Kollege vom "Nouvelle Experteur", der das Ganze initiiert hatte, angerufen und hatte gesagt, Alice, hier hat gerade eine komische deutsche Zeitschrift angerufen, Jasmin heißt die, glaube ich, die wollen die Aktion auch machen, aber ich habe kein gutes Gefühl. Ich habe nicht den Eindruck, dass die eine politische Aktion machen wollen, sondern die wollen das nachstellen. Kannst du nicht was tun?
Eine Frau betrachtet das Titelbild des Stern vom 06.06.1971, in dem sich 374 Frauen zu einem Schwangerschaftsabbruch bekennen.
Titelbild des Stern vom 06.06.1971, in dem sich 374 Frauen zu einem Schwangerschaftsabbruch bekennen (imago / epd)
Dann habe ich aufgelegt, habe einen Moment überlegt, dann habe ich den Ressortleiter vom "Stern", mit dem ich beruflich zu tun hatte, Maaß hieß er, angerufen und habe gesagt, hören Sie, wenn ich Ihnen so eine Aktion bringe, das Dutzend obligatorischer Prominenter dabei – für die Medien –, sind Sie bereit, das in einem politischen Kontext zu veröffentlichen, also, kollektiver Titel und so weiter. Und da hat der ganz freundlich gesagt, ja, wenn Sie das schaffen, Frau Schwarzer, was er offensichtlich nicht für möglich hielt. Und so begann das, ich dachte, es gibt in Deutschland eine Frauenbewegung, es gab aber keine. Es gab nur noch kleine, verschreckte, linke Gruppen, die Marx-Schulungen machten.
Letztendlich sind diese 374 Unterschriften zur Hälfte gekommen doch noch von kleinen, versteckten Gruppen, die gesammelt haben, und die andere Hälfte waren einfach Nachbarinnen, Kolleginnen, auch beim WDR, ja, eine Sekretärin hat mitgemacht, dann hat eine Redakteurin und so weiter, dann hat sie Freundinnen angesprochen. Diese Frauen bewundere ich bis heute, weil die hatten wirklich den Mut von Löwinnen. Sie konnten – wir und sie, ich war ja dabei bei den Unterzeichnerinnen – nicht wissen, was passiert morgen. Werden die Nachbarn noch mit ihnen sprechen, trennt sich der Ehemann, was sagt die Familie?
Gut, mir war es ziemlich klar, dass es keine strafrechtlichen Folgen geben würde, es war überfällig. Die Kluft zwischen der Realität der eine Million Abtreibenden und diesem nicht angewandten, aber bedrohlichen und einschüchternden Gesetz, war längst klar. Dieses Gesetz wurde nicht respektiert, aber hat eben die Menschen entmündigt und eingeschüchtert – und das tut es ja bis heute.

"Kern des Abtreibungsverbots ist im deutschen Recht erhalten"

Dittrich: Es waren auch viele Frauen dabei, hinterher gesagt haben, ich habe nicht wirklich einen Schwangerschaftsabbruch gemacht, aber mir war das wichtig als …
Schwarzer: Nein, nicht viele, weil es ist einfach so, dass in der Zeit die meisten Frauen irgendwann schon mal abgetrieben hatten. Es waren ganz wenige, zu denen gehörte ich. Warum habe ich nie abgetrieben? Weil ich einfach obsessiv darauf geachtet habe, dass ich nicht ungewollt schwanger werde. Das hat vielleicht auch etwas mit meiner Geschichte als uneheliches Kind zu tun. Ich hätte trotzdem schwanger werden können und ich kenne natürlich – wie quasi alle Frauen – die Angst davor. Über uns allen schwebte dieses Damoklesschwert, die Angst vor der ungewollten Schwangerschaft.
Und wir können leider in dieser Frage nicht über die Vergangenheit reden, wir sehen gerade, was in der Welt los ist, was in Polen los ist, was in Amerika los ist, da ist für die Rechten und Konservativen das Recht auf Abtreibung ganz zentral im Fokus. Und es wird auch hier wieder losgehen, denn Frauen in Deutschland haben bis heute nicht das Recht, abzutreiben. Wir haben nicht wie Frankreich oder Irland oder Italien eine Fristenlösung, nein, wir müssen uns das genehmigen lassen. Wir brauchen ein Gutachten, wir müssen bitte, bitte sagen. Das heißt, der Kern des Abtreibungsverbots ist bis heute im deutschen Recht erhalten, die Entmündigung und die Bevormundung.

"Influencerinnen propagieren Frauenbild von vorgestern"

Dittrich: Die Titelgeschichte "Wir haben abgetrieben" wird groß gefeiert bei Ihnen, 50 Jahre Frauenbewegung, wenn Sie jetzt ein bisschen Bilanz ziehen, und man heute mal schaut, wie sieht es eigentlich aus, Männer nehmen Elternzeit – nicht so viel und so häufig wie Frauen, aber immerhin –, immer mehr Frauen sind berufstätig, es gibt Krippenplätze, Rechtsanspruch auf Krippenplätze. Wir haben 16 Jahre Bundeskanzlerin Merkel, die jetzt in den letzten Zügen ihrer Amtszeit ist, insgesamt muss man doch sagen, ganz schön viel erreicht oder? Sind Sie zufrieden?
Schwarzer: Zum einen, wenn Sie sagen, es wird gefeiert, der FrauenMediaTurm hier in Köln macht eben am 11. und 12. September ein großes Event mit Debatten und so weiter und schaut sich die letzten 50 Jahre aus dem Jetzt an. Und da muss ich schon sagen, es ist erschreckend, wie viele Themen von damals noch hoch aktuell sind. Gleichzeitig gibt es Veränderungen, die haben Sie eben genannt, es gibt mehr berufstätige Frauen, die Türen sind offen für Qualifikation von Frauen, es gibt eine beachtliche Minderheit von Männern, die sich so verhalten wie mein Großvater, die sich wirklich aktiv mit um die Kinder kümmern.
Wir hatten 16 Jahre jetzt eine Kanzlerin, es ist enorm viel passiert. Ich finde, wir sind in diesen letzten 50 Jahren mit Siebenmeilenstiefeln vorangegangen. Im Licht stehen die Frauen da, alles in Ordnung, keine Probleme mehr, die Türen stehen ihnen offen. Und dann schlägt es Ihnen aber im Dunkeln die Beine weg. Nehmen Sie ein Phänomen wie die Influencerinnen. Wir haben uns gerade bei "Emma" mit dem Thema beschäftigt und haben das zur Titelgeschichte gemacht. Und ich muss selbst sagen, selbst wir als feministische Blattmacherinnen, wir sind entsetzt, was da los ist.
Diese Influencerinnen in überwältigender Mehrheit propagieren natürlich ein Frauenbild, das nicht von gestern ist, sondern von vorgestern. Die beschäftigen sich den ganzen Tag damit, sich einzucremen, abzunehmen, sich zu Tode zu hungern, mit den Wimpern zu klimpern, sogenanntes Duck-Face zu machen wie so eine Gummipuppe. Also, es gibt einen irrsinnige Widerspruch zwischen diesem Rollback zu einem vorgestrigen Frauenbild, das die Frauen und die Mädchen auch extrem beschäftigt, dem sie gerecht werden wollen, und gleichzeitig den neuen gesellschaftlichen Möglichkeiten, die für Frauen geschaffen wurden. Das Problem ist, denke ich, heute, dass wir in einer Zeit des Umbruchs leben. Alles ist möglich – im Positiven wie im Negativen.

"Wir Feministinnen sind angetreten, um Geschlechterrollen abzuschaffen"

Dittrich: Profitieren die Frauen davon, dass heutzutage auch vom dritten Geschlecht gesprochen wird, von dem, was die Queer-Communities erreichen wollen, vom Gender-Stern, oder verschwinden die Frauen darin?
Schwarzer: Die Sprache-Sache ist eine, da muss ich auch sagen, ich bin Journalistin, Sprache ist mein Beruf. Und es gibt mir da immer das große I, das schon mal angewandt wird, mal sagt man beides, ich halte das Sternchen und den Strich - das kann man mit der Sprache nicht machen. Und ich habe immer schon seit Mitte der 70er mich dafür eingesetzt, dass Menschen, die diesen tiefen seelischen Konflikt haben, das andere Geschlecht sein zu wollen, dass das auch möglich ist. Nur, das sind in Deutschland, es gibt Zahlen darüber, über Jahrzehnte ein paar Tausend Menschen gewesen.
Was wir zur Zeit im Namen der Toleranz und Transsexualismus erleben, ist etwas ganz anderes, wo man Jugendlichen suggeriert, meinetwegen Mädchen, die nicht in der Rolle sind, Mädchen, die Fußball spielen, Mädchen, die keck und selbstbewusst sind, Mädchen, die sich vielleicht mal in ein anderes Mädchen verlieben, denen wird jetzt gleich gesagt, du bist kein richtiges Mädchen, du bist transsexuell. Oder ein Junge, der zarter ist, sich gern schminkt und so weiter, ja, dann bist du transsexuell und bist in Wahrheit eine Frau.
Das Absurde daran ist, wir Feministinnen sind angetreten, um diese Schubladen, diese Geschlechterrollen abzuschaffen, nicht um das biologische Geschlecht abzuschaffen, das ist ja nun eine Realität, sondern wir sind angetreten – und ich stehe da immer noch –, um zu sagen, es ist völlig egal, was du biologisch bist, geh deinen Neigungen nach und deinen Begabungen, bewege dich, wie du willst. Und jetzt plötzlich soll bei diesem Transhype ein Mädchen, dass meinetwegen wild ist wie ein Junge, kein Mädchen mehr sein, sondern muss ein Mann werden. Das ist ja tief reaktionär. Tief reaktionär, verstehen wir uns richtig, sind nicht die tief, echt Transsexuellen. Die haben einen seelischen Konflikt, wo man bei der Lösung helfen muss. Aber tief reaktionär ist die Interpretation des nicht geschlechtskonformen Verhaltens als transsexuell.
Dittrich: Müssten die jüngeren Frauengenerationen und auch jüngere Feministinnen dankbarer sein für das, was die Frauen in den vergangenen 50 Jahren erkämpft haben?
Schwarzer: Nein, um Gottes willen, Dankbarkeit ist eine völlig überflüssige Kategorie. Aber es wäre gut, wenn sie nicht wieder bei null anfangen, sondern sich auf unsere Schultern stellen und nach vorne blicken. Wir haben ja jetzt viel erreicht und davon profitieren sie auch. Aber in der Tat, es ist jetzt in die Enkelinnengeneration der Frauenbewegung die Illusion gepflanzt worden, sie wären emanzipiert.
Dittrich: Aber manche von denen würden vielleicht sagen, dass sie sich nicht auf diese Schultern stellen wollen, weil sie Feminismus als etwas anderes verstehen. Es wenden sich ja einige auch sehr kritisch gegen Sie und sagen, das ist eine Form von Feminismus, die wir nicht vertreten wollen. Ihnen wird beispielsweise vorgeworfen, rassistisch zu sein, wenn Sie sich kritisch mit dem politischen Islam auseinandersetzen oder mit dem Kopftuch. Wie entgegnen Sie dem?
Schwarzer: Zum einen muss ich sagen, es ist nicht meine Aufgabe, Menschen, die erst mal mit dem, was jemand wie ich vertritt, nichts anfangen können, um jeden Preis überzeugen zu wollen. Ich stoße lieber halb geöffnete Türen ganz auf, als mir den Kopf bei verschlossenen Türen einzurennen. Das müssen dann die Menschen selbst wissen. Dass man die Kritik am Kopftuch oder gar an der Burka rassistisch findet, ist wirklich erstaunlich, denn ich meine, was ist das für ein Frauenbild? Frauen sollen Kopftuch tragen, weil ihr Haar Sünde ist, weil ihr Körper Sünde ist, sollen sie sich verhüllen. Was soll eine Feministin dazu sagen?
#Unser Frauenkörper ist natürlich so wenig sündig wie ein Männerkörper. Man muss also bei dieser Kopftuchfrage aber doch unterscheiden zwischen den subjektiven Motiven von Frauen und der Propaganda der Politischen für das Kopftuch und den Frauen, die das propagieren, die immer milde lächelnd mit ihren schönen pastellfarbenen Tüchern und ihrem Laptop posieren, um zu zeigen, wie modern das ist.
Das größte Problem ist das natürlich in den islamischen Ländern, da werden Millionen Frauen brutalst unterdrückt, ein verrutschtes Kopftuch kann schon das Leben kosten. Da ist meine Solidarität. Auch "Emma" berichtet ja sehr viel über die Verhältnisse im Iran, in Afghanistan, in Algerien und so weiter. Da muss man schon ein bisschen über seine Kaffeetasse gucken. Mich interessiert weniger das Kopftuch von Berlin-Mitte, das kokett getragen wird, als die Millionen zwangsverschleierten Frauen in der Welt.

Die "Emma" und die Zukunft

Dittrich: Frau Schwarzer, am 26. Januar 1977 liegt die erste "Emma" in den Kiosken: ihre Zeitschrift, Ihr Projekt, Ihre Idee, von Ihnen herausgegeben, eine Zeitschrift von Frauen für Frauen. Sie haben mal gesagt, wenn Sie ein Kind gehabt hätten, dann hätte es die "Emma" nicht gegeben.
Schwarzer: Wenn ich ein Kind gehabt hätte, ich meine, die "Emma" machen, das waren nicht nur sehr schwierige Zeiten, sondern das war einfach über Jahre, fast Jahrzehnte ein Tag-und-Nacht-Job. Jetzt habe ich das ein bisschen mehr im Griff und ein tolles, solidarisches Team und so, aber natürlich, das hätte ich nicht stemmen können, wenn ich Mutter gewesen wäre, das ist klar. Was mich jetzt angeht, natürlich habe ich früher mal gedacht: Ich werde mal ein Kind haben und so. In meiner Generation hat man das gedacht.
Dittrich: Ein Mädchen, schreiben Sie …
Schwarzer: Ein Mädchen, ja. Das ist auch typisch für den Narzissmus, den man hat, dass man ein Mädchen … Verlängerte Alice und so weiter … Da habe ich mich dann bei ertappt, bei diesem Narzissmus. Aber dann als beginnende Feministin, habe ich genauer hingeguckt und habe die Folgen der Mutterschaft gesehen und habe mich nun dann doch nicht mehr wahnsinnig gedrängt. Und ich muss sagen, ich gehöre eben zu den Frauen, für die die Mutterschaft jetzt nicht zwingend war. Dass ich kein Kind habe, ist für mich kein Thema.
Dittrich: Aber die "Emma"! Und die Startauflage der "Emma", 200.000 Exemplare waren damals sofort vergriffen, Sie mussten nachdrucken.
Schwarzer: Wir mussten 100.000 nachdrucken. Fragen Sie mich aber nicht nach der Auflage von heute. Die ist natürlich sehr viel geringer – wie die aller politischen Zeitschriften –, aber ist das nicht unglaublich, seit 44 Jahren bin ich Verlegerin einer total unabhängigen Zeitschrift, die übertariflich zahlt, die keine Schulden hat, die völlig unabhängig ist und noch nie von irgendeiner Seite auch nur einen Pfennig bekommen hat.
HANDOUT - Das Cover der ersten EMMA-Ausgabe vom Februar 1977, erschienen am 26.01.1977. Seit 40 Jahren erscheint «Emma», die feministische Zeitschrift. (zu dpa ««Emma» wird 40 - Alice Schwarzer: «Ich will mich nicht trennen»» vom 20.01.2017) ACHTUNG: Verwendung nur für redaktionelle Zwecke im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die "Emma" und nur bei Urheber-Nennung) Foto: EMMA/dpa |
Seit 44 Jahren ist Alice Schwarzer Verlegerin der "Emma" (EMMA)
Dittrich: Aber verraten Sie uns trotzdem, wie es der "Emma" heute geht?
Schwarzer: Der "Emma" geht es prima! Wir sind eine gewachsene Truppe, die eine Kollegin ist seit 35 Jahren da, die andere ist vor zwei Jahren dazugekommen. Also sehr kunterbunt, wir sind sehr unterschiedlich im Temperament, in der Lebensweise, darauf habe ich auch geachtet. Ich finde, das muss sich alles spiegeln bei uns, alles muss möglich sein, eine mit einem Mann, die andere mit einer Frau, die andere alleine. Eine hat zwei Kinder, die andere hat keine.
Denn auch unsere Leserinnenschaft ist ja sehr vielfältig. Und worauf ich wirklich stolz bin, ist, dass die "Emma" so lebendig ist und sich wirklich Jahr für Jahr weiterentwickelt. Wenn man da reinguckt, wird man Themen finden, die man sonst nirgendwo findet. Wie gesagt, eine richtige Analyse der Rolle der Influencerinnen und was da passiert oder jetzt zum Beispiel über Leihmütter. Ich denke, die Themen gehen uns nicht aus, und wir sind ganz vorne an der Front.
Dittrich: Vor einigen Jahren, ich glaube 2007, 2008, da hatten Sie eine Nachfolgerin als "Emma"-Chefredakteurin ausgesucht, die Journalistin Lisa Ortgies. Das hat nicht geklappt, Sie haben sich nach ein paar Wochen voneinander getrennt. Nun sind Sie weiterhin Chefredakteurin. Wie stellen Sie sich die Nachfolger vor oder den Generationswechsel an der Spitze der "Emma"?
Schwarzer: Was ich toll finde, es hat natürlich in der Geschichte von "Emma" immer wieder mal Überlegungen gegeben, kann die oder die – oder die sind gefragt worden –, kann die Chefredakteurin. Seit diesem gescheiterten – von der Betroffenen öffentlich gemachten – Versuch, Ortgies als Chefredakteurin zu etablieren, was einfach ein Irrtum war, weil sich dann herausgestellt hat, Sie ist Fernsehjournalistin, kann aber nicht Chefredakteurin, das kann vorkommen, das war vor allem unsere Schuld, unsere Verantwortung, hat zum Beispiel, denke ich mal der "Spiegel", ich weiß nicht, wie viele neue Chefredakteure? Oder der "Stern", ich weiß nicht, ich würde mal sagen ein Dutzend, ja?
Also, es ist unglaublich, dass man einen öffentlich gewordenen Versuch, eine Frau als Chefredakteurin zu etablieren, dass man darüber seit 20 Jahren redet. Das finde, darf man sich mal überlegen. Ich bin weiter Chefredakteurin, weil von meinen Kolleginnen alle sagen, Alice, nein danke, das ist uns zu viel Stress und zu viel Arbeit. Und ich mache die, man sieht das, mit Vergnügen und Kompetenz, also muss sich niemand Gedanken machen. Das ist unsere Sache, wie wir das regeln.
Dittrich: Ist die "Emma" denn ohne Alice Schwarzer überhaupt vorstellbar?
Schwarzer: Das weiß ich nicht, das muss man sehen?

Frauen, Macht, Streit

Dittrich: Für viel Aufsehen sorgten Sie mit Konflikten, die Sie nicht mit Männern austrugen, sondern ausgerechnet mit Frauen. 1975 zum Beispiel in einem Fernsehstreitgespräch Esther Vilar, die das Feminismus-kritische Buch "Der dressierte Mann" geschrieben hatte, auch mit Verona Feldbusch haben Sie sich öffentlich auseinandergesetzt, mit Kopftuchträgerinnen, die Ihnen vorgeworfen haben, Sie seien eine Rassistin. Geraten Sie mit Frauen eher in Streit als mit Männern?
Schwarzer: Man muss ja überlegen, das sind alles Medieninszenierungen. Die Medien haben es wahrscheinlich besonders gern, wenn sich Feministinnen mit Frauen streiten. Das heißt, Weiberzank. Da wird es natürlich erst wirklich spannend. Ich meine, dass ein Mann sagt, Mensch, die Schwarzer will jetzt später schon wieder, dass ich die Hälfte der Hausarbeit mache, und ich soll auch als Chef nicht so allmächtig sein und ich darf auch die Frau nicht schlagen und vergewaltigen schon gar nicht.
Dass vielen Männern das alles nicht passt, ist doch klar, die Überraschung ist nicht gewaltig. Unter Frauen wird es interessant. Wenn wir Frauen, wir sind ja 52 Prozent der Weltbevölkerung, wenn wir Frauen uns einig werden, dann wäre Feminismus kein Thema mehr. Das ist natürlich, das verinnerlichte Patriarchat ist natürlich eine noch heiklere Hürde als das sichtbare, grobe Patriarchat.
Dittrich: Können Sie das mal beschreiben, was Sie an diesen Frauen kritisiert haben, also an einer bestimmten Darstellung von Weiblichkeit, in der es nur um Äußerlichkeiten beispielsweise geht?
Schwarzer: Na ja, was soll man über Vilar sagen, Vilar hat auf dem Höhepunkt der Frauenbewegung das Buch "Der dressierte Mann" veröffentlicht. Die These war, Männer sind Opfer der Frauen, die Frauen liegen den ganzen Tag auf dem Sofa und essen Pralinen und so weiter. Die Empörung bei Millionen von Frauen in Deutschland war gewaltig. Und ich habe mich weniger aus meinem Verständnis mit Frau Vilar persönlich auseinandergesetzt, die interessierte mich gar nicht, sondern mit dieser zynischen Provokation. Und ich habe sozusagen, darum ist dieses Gespräch so legendär geworden, nicht als Journalistin agiert, sondern ich habe mich ihr als betroffene Frau gegenübergesetzt. Das ist das Geheimnis dieses Gesprächs, darum ist es bis heute Legende.
Verona Pooth posiert auf einem Tisch sitzend in pinkem Outfit mit Netzstrumpfhose
Verona Pooth (früher Feldbusch) bei einer Signierstunde für ihr Buch (picture alliance / Geisler-Fotopress | Toshigawa/Geisler-Fotopress)
Und Frau Feldbusch ist ja ein lupenreines Werbeprodukt, das ist eine Kunstfigur, die uns also das dümmliche Plappern als begehrenswertes Rolemodel für Frauen dargestellt hat. Wir haben dann irgendwann gesehen, dass junge Frauen darauf reinfielen und das imitierten und so weiter. Ich habe mich sozusagen in der Begegnung mit Frau Feldbusch mit dieser Art von Frauenbild, das natürlich aus der Sicht einer Feministin total rückständig und reaktionär ist, auseinandergesetzt.
Jetzt haben wir ganz viele Feldbuschs, jetzt haben wir Tausende von Feldbuschs im Internet, die Influencerinnen. Das ist ein sehr ernstes Thema! Wenn das die Vorbilder unserer Töchter werden, diese Werbeprodukte, die dummes Weibchen spielen und den ganzen Tag mit Schminken und Diäten verbringen und Plappern, dann gute Nacht. Ich glaube, wir Frauen, wenn wir unsere Töchter retten wollen, müssen jetzt mal alle die Feldbuschisierung unserer Welt bekämpfen, nicht nur Alice Schwarzer.
Dittrich: Wir sitzen ja hier im FrauenMediaTurm, hier ist nicht nur die Redaktion der "Emma", sondern auch ein großes feministisches Archiv, das Sie gegründet haben. Inwiefern ist das wichtig für die Frauenbewegung und für die Zukunft der Frauenbewegung?
Schwarzer: Ich halte die angebliche Geschichtslosigkeit von Frauen für das größte Hindernis der Emanzipation. Jetzt habe ich ja schon drei Generationen beobachtet in den letzten 50 Jahren und ich sehe, dass die Gefahr ist, dass die Frauen immer wieder von vorne anfangen, immer wieder bei null. Dann kommt man natürlich nicht weiter. Frauen haben aber nicht nur in den letzten Jahrzehnten, sondern Jahrhundert schon wahnsinnig viel gedacht, getan, riskiert, gemacht, davon kann man sehr viel lernen.
Und ich engagiere mich so dafür, weil ich Angst habe, dass wir wieder unsere eigene Geschichte vergessen und dass wir wieder nicht aufbauen können, dass sich die nächste Generation wieder nicht auf unsere Schultern stellen kann, um weiter zu blicken. Und außerdem macht das unheimlich Spaß, sich anzugucken, was Frauen in den letzten Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten schon alles geleistet haben. Da wird man ganz stolz, da sagt man sich, was solche Künstlerinnen gab es, solche Sportlerinnen, solche Frauenrechtlerinnen, unglaublich! Das ist ein Ort der Freude und des Stolzes.
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