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Puzzle von Buch

Christina Viragh hat in ihrem Buch "Im April" das Traumatische in die Außenwelt verlagert. Sagenhafte Elemente finden sich darin ebenso wie eine Fülle von seltsamen Ereignissen, die alten Chroniken entstammen könnten.

Von Eva Pfister | 27.11.2006
    Im Alter von sieben Jahren ist Christina Viragh als Kind ungarischer Emigranten in die Schweiz gekommen. Die Ankunft bei Menschen, die den Fremden gegenüber eher misstrauisch waren, deren Ordnungsliebe keine "Störenfriede" ertrug, hat sie immer wieder beschrieben, als traumatisches Erlebnis in ihrem ersten Buch "Unstete Leute", eher humorvoll in ihrem neuen Roman "Im April". Auch er spielt wieder in Luzern, der Stadt jenes frühen Exils, die immer wieder Schauplatz ihrer Bücher ist, obwohl Christina Viragh sie lange hinter sich gelassen hat. Sie studierte in Lausanne, verbrachte längere Zeit in den USA und lebt seit zwölf Jahren in Rom. Warum kehrt sie schreibend immer wieder an diesen Ort zurück?

    "Weil das für mein Leben etwas sehr Einschneidendes war, die Emigration, das merke ich mit fortschreitendem Alter immer mehr. Das war schon ein gewaltiger Einschnitt in meinem Leben. Ich kreise um dieses Ereignis, aber es ist eine Spirale, ich kehre auf verschiedenen Ebenen zu diesem Mittelpunktsereignis zurück. Es bleibt wichtig, aber jetzt ist es nicht mehr so traumatisch, ich kann es besser situieren in einem größeren Kontext."

    Im neuen Roman von Christina Viragh sind der emigrierte Ungar Ferenc und seine Tochter Mari nur zwei von vielen Figuren, die sich an dem geheimnisumwitterten Ort befinden, der die Hauptrolle spielt: Eine Wiese am Stadtrand von Luzern, genannt "die Matte". Ein Bauernhaus steht dort, eine Villa, und außerdem ein paar Mietshäuser aus dem 20. Jahrhundert. Der Text springt wagemutig auf vier Zeitebenen über 600 Jahre hinweg. Beginnend im April beobachtet etwa das Mädchen Mari in den 60ern, wie im Bauernhaus Möbel hinausgeräumt werden und Schüsse fallen. Als sie Polizeisirenen hört, versteckt sie sich schnell, das hat sie noch in Ungarn gelernt. In den 20er Jahren jagt der jähzornige Bauer seinen Sohn in die Matte, um etwas zu suchen, von dem er selbst nicht weiß, was er sein könnte. Im Mittelalter weigerte sich der Pächter, diese Wiese zu mähen. Und in den 20ern wie in den 60er Jahren liegt der Grundbesitzer Weider im Giebelfenster seiner Villa mit einem Fernrohr auf der Lauer.

    Ob es nun ein Schatz oder ein Fluch ist, der da verborgen liegt, die Anwohner der Matte starren auf diese Wiese wie auf eine Bühne, auf der jederzeit ein Katastrophendrama stattfinden könnte, und trauen dem Boden unter ihren Füßen nicht. Damit taucht ein Motiv auf, das man auch aus den früheren Büchern von Christina Viragh kennt: der Schwindel. Ob die Personen an Höhenkrankheit, an Fieber oder am Föhn leiden, stets fühlen sie den Boden unter ihren Füßen schwanken.

    "Das Thema ist bei mir zentral, und ich habe es in meinen ersten Büchern sehr persönlich, sehr individuell gefasst. Jemand, der emigriert, hat natürlich den Boden unter den Füßen verloren.

    In diesem neuen Buch projiziere ich es auf das Leben überhaupt. Das ist die These des Buches, dass wir alle so leben: Ich möchte es nicht dahin stilisieren, dass wir alle Emigranten sind. Aber wir sind irgendwo auf einem Boden, der ja nicht ganz der unsere ist. Und hier sage ich: Der Boden ist nicht ganz der unsere, weil er auch Vergangenheit in sich trägt. Da waren früher andere Leute, andere Geschichten, andere Strukturen, es sah auch anders auch, insofern sind wir auf einem Boden, der ein bisschen schwankt unter unseren Füßen."

    Vielleicht kann deswegen Selena nicht zur Ruhe kommen in ihrer Wohnung, in der 40 Jahre zuvor Ferenc und Mari eine ungewisse Existenz zwischen Bleiben und Rückkehren führen und von den Geistern ihrer ungarischen Vergangenheit heimgesucht werden. Selena verbringt jedenfalls schlaflose Nächte auf der Suche nach dem Grund ihres Unbehagens, während ihr Mann sich ebenso rätselhaft von einem Doppelgänger verfolgt fühlt.

    Christina Viragh hat in diesem Buch das Traumatische in die Außenwelt verlagert. Sagenhafte Elemente finden sich darin ebenso wie eine Fülle von seltsamen Ereignissen, die alten Chroniken entstammen könnten. Aber die Autorin hat die vielen Geschichten, die im Roman "Im April" zusammenfließen, nicht recherchiert.

    "Ich habe es erfunden. Damit ist aber nicht gesagt, dass sie nicht real sind. Solche Geschichten gibt es eben, die floaten da herum, die sind einfach vorhanden. Ich würde eben behaupten, dass es überall so ist: Wenn man ein bisschen gräbt, wo immer man sich befindet - gräbt natürlich in einem übertragenen Sinn -, stößt man auf Seltsamkeiten, auf merkwürdige Geschichten. Alle suchen etwas, einige suchen Gold, und dann ist eben diese Kiste, von der man nicht weiß, was drin ist - das ist ein Versuch, das fassbar zu machen, was eigentlich unsagbar und nicht ganz fassbar immer in der Luft liegt, oder eben im Boden liegt, um es besser zu sagen."

    Kleine Doppelgängerfiguren sollen in vorchristlicher Zeit in der Erde begraben worden sein, denn die Matte war eine Kultstätte, wie ein Hobbyhistoriker herausfindet. Manche Dinge finden so im Laufe des Romans eine Erklärung, andere Rätsel lösen sich nur zum Teil auf. Christina Viragh spielt virtuos mit dem Geheimnisvollen, das aber nur die Oberfläche ist. Schon in ihrem letzten Buch "Pilatus" erzählen Sagen von Verrat und vom Verschwinden, aber hinter den alten Mythen verbirgt sich die Geschichte eines sehr konkreten Verrats, nämlich desjenigen einer Mutter an ihren Kindern. Auch im Roman "Im April" gibt es Mütter, die sich von ihren Kindern absetzen. Aber was in "Mutters Buch" und in "Pilatus" noch deutlich als Trauma erkennbar ist, kommt im neuen Roman mit einer heiteren Leichtigkeit daher. Wie fand die Autorin zu diesem neuen Ton?

    "Das hat sich ergeben. Ich habe mich einfach in diesen Ort hineingedacht, der wirklich ein konkreter Ort ist, natürlich fiktiv, aber für mich ist es ausgegangen von dem Ort, wo wir effektiv gelandet sind als Emigranten aus Ungarn, und ich habe mich einfach versenkt in die Atmosphäre jener Zeit und des Ortes, und das hat sich eigentlich wie von selbst dann erzählt."
    Auch der Stil hat sich gewandelt. In ihrer früheren Prosa haben sich die Bewusstseinsströme verschiedener Stimmen überschnitten, haben sprunghafte Assoziationen und dichte Beschwörungen von Wahrnehmungen und Erinnerungen eine äußere Handlung nicht zugelassen. Nun aber hat Christina Viragh eine allwissende Erzählperspektive gewählt, die in die verschiedenen Wohnungen und Köpfe zu allen Zeiten freien Zugang hat. Das Buch wirkt wie eine raffinierte Collage verschiedener, locker erzählter Geschichten. Und nachdem in "Pilatus" das Schneidern, das Zuschneiden und Zusammennähen einzelner Teile eine Rolle spielt, drängt sich die Frage auf, ob dies auch eine Beschreibung für die Arbeitsweise der Autorin sein könnte.

    "Nein, überhaupt nicht. Wenn ich eine Metapher verwenden würde für mein Schreiben, würde ich sagen, es wächst, ich lasse es wachsen. Für mich ist Schreiben ein organischer Vorgang, und ich würde nur im äußersten Notfall was verschieben. Das Buch, das ja auch aus vielen Einzelteilen besteht, ist aber so gewachsen, ich habe nicht die Teile nachträglich zusammen geschoben, das war für mich eine innere Notwendigkeit."

    Bei diesem Puzzle von Buch ist das eine erstaunliche Aussage, verliert man doch schon beim Lesen zuweilen fast den Überblick. Aber auch dann reißt der Erzählfluss mit. Die Atmosphäre auf der Matte verdichtet sich zum November hin zu einer Untergangsstimmung - auf allen Zeitebenen gleichermaßen, während im darauf folgenden Frühling die Gemüter sich wieder beruhigen. Auch Ferenc und seine Tochter finden sich in ihre neue Situation hinein. Und so vermutet man in dem neugierigen und widerspenstigen Mädchen Mari, das eines Tages von der Schule wegläuft und beschließt, Bücher zu schreiben, ein Selbstporträt der Autorin. Aber Christina Viragh erfindet auch ihre Erinnerungen immer wieder neu.

    "Also so wie diese beiden Figuren waren ich und mein Vater nicht. Das ist klar. Und trotzdem, damit es lebt, muss es verwurzelt sein im eigenen Leben, - in Anklängen, in Elementen, vielleicht auch in Projektionen und Wünschen - ich selbst wäre eigentlich lieber so gewesen wie Mari in diesem Buch."