Freitag, 19. April 2024

Archiv

Qualität von Ganztagsschulen
"Es gibt keine konzeptionelle Linie"

Wie steht es um die Qualität der Kinderbetreuung? Der Generalsekretär der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland, Mike Corsa, fordert kleinere Gruppen in Kitas und ein Konzept für die Ganztagsschulen. Ganztag bedeute nicht, Unterrichtsstunden in den Nachmittag zu verlegen, sagte er im DLF.

Mike Corsa im Gespräch mit Friedbert Meurer | 05.06.2014
    Kinderspielzeug hängt an einem Rahmen. Im Hintergrund spielt eine Erzieherin mit zwei kleinen Kindern
    Mehr Qualität statt Quantität: Das verlangt der Kinderbildungsexperte Corsa. (dpa / Julian Stratenschulte)
    Nach Ansicht von AEJ-Generalsekretär Corsa waren die vergangenen Jahre von einem quantitativen Ausbau geprägt. Jetzt müsse man an die Qualität gehen. Bei den Ein- bis Dreijährigen gehe es beispielsweise um die Gruppengröße. Momentan betreue ein Erzieher im Durchschnitt 4,5 Kinder. "Wir müssen auf maximal drei Kinder kommen", verlangte Corsa. Außerdem müssten jüngere und ältere Kinder stärker getrennt werden, da sie einen unterschiedlichen Entwicklungsbedarf hätten.
    Auch bei den Ganztagsschulen sieht Corsa Nachbesserungsbedarf. Momentan könnten nur ein Drittel der Schüler Ganztagsangebote nutzen. 2002 seien es nur neun Prozent gewesen. Einer Umfrage zufolge würden aber 70 Prozent dieses Angebot gerne nutzen. Corsa betonte, die Qualität sei in den Ganztagsschulen grundsätzlich besser als in Kitas. Dafür gebe es allerdings keine konzeptionelle Linie. "Für uns ist Ganztag nicht, dass wir Unterrichtsstunden einfach in Nachmittag ziehen", sagte Corsa. Hier sei eine tiefgehende Diskussion erforderlich.

    Das Interview in voller Länge:
    Friedbert Meurer: In diesen Tagen findet in Berlin der Deutsche Kinder- und Jugendhilfetag statt, der größte Kinder- und Jugendgipfel Europas. Fast 50.000 Experten und Gäste, Pädagogen, Studenten nehmen teil und diskutieren, wie zum Beispiel Kitas und Schulen noch besser werden können. Seit einigen Jahren hat sich in Deutschland ja viel verändert. Es gibt den Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ab einem Jahr und immer mehr Schulen sind zu Ganztagsschulen geworden – fast eine Bildungsrevolution. Vieles kommt dem Umstand entgegen, dass oft beide Elternteile berufstätig sind. Aber wie gut werden die Kinder denn jetzt wirklich betreut? – Mike Corsa ist Gastgeber des Deutschen Kinder- und Jugendhilfetages. Er ist Generalsekretär der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland und stellvertretender Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe. Guten Morgen, Herr Corsa!
    Mike Corsa: Einen schönen guten Morgen, Herr Meurer!
    Meurer: Wenn Sie ein bisschen Revue passieren lassen, ist die Qualität in Kitas und Ganztagsschulen auf der Strecke geblieben?
    Corsa: So würde ich es nicht sagen, aber da ist noch dringender Entwicklungsbedarf. Die letzten Jahre waren ja eher davon geprägt, dass wir quantitativ ausbauen mussten, weil Eltern ja den Bedarf formulierten und Plätze einforderten. Jetzt ist dringend angesagt, dass wir an die Qualität herangehen. Bundesministerin Schwesig sieht das ja auch so und kündigt ja auch in der Presse an, dass sie eine Qualitätsoffensive machen will.
    Meurer: Was muss denn noch entwickelt werden?
    Corsa: Wir können im Kleinenbereich schon anfangen, wenn wir bei den Kindern unter drei sind, also zwischen ein und drei Jahren. Da geht es schon um die Gruppengröße. Wir haben im Moment eine Relation von etwa einer Erzieherin zu viereinhalb Kindern. Das ist jetzt eine sehr theoretische Zahl, das ist eine statistische. Wir müssen da herunter, dass auf eine Erziehung maximal drei Kinder kommen. Wir müssen bei den kleinen Kindern auch achten, dass kleinere und größere versucht werden zu trennen. Man wird den kleineren nicht gerecht, man wird den größeren aber auch nicht gerecht, die haben einen anderen Entwicklungsbedarf. – Das wäre nur so eine Botschaft schon mal.
    In der Fort- und Weiterbildung passiert viel
    Meurer: Sind denn die Gruppen überhaupt größer geworden jetzt mit der Umstellung auf Kita-Ganztagsbetrieb?
    Corsa: Das kann man so nicht sagen. Wenn wir unsere statistischen Zahlen angucken, bildet sich das nicht ab. Im Einzelfall ist das sicher der Fall, wobei die Kommunen, die Jugendämter dringend danach schauen, dass sie das in Bezug auf die Fachkräfte, aber auch kindgerecht halten. Aber wie gesagt, da ist Entwicklungsbedarf da.
    Meurer: Wie kann das Problem gelöst werden ohne die Erzieherinnen und Pädagogen oder Pädagoginnen? Es werden ja Tausende gesucht.
    Corsa: Es werden Tausende gesucht, wobei die Ausbildungsstätten, die Fachschulen und Fachhochschulen haben in den letzten Jahren auch auf den Bedarf, auf den zu erwartenden Bedarf reagiert. Es sind viele Menschen reingekommen. Es gibt auch on the job, berufsbegleitende Ausbildung und Ähnliches. Wobei der Bedarf ist weiter da und es wird auch kräftig ausgebildet.
    Meurer: Klingt ein bisschen nach Schnellkurs zur Kita-Pädagogik.
    Corsa: Klingt zum Teil ein bisschen nach Schnellkurs, wobei unterschätzen Sie nicht die Qualität. Gerade in der Fort- und Weiterbildung passiert da relativ viel und die Fachkräfte sind da gut betreut.
    Meurer: Für Kitas ab eins, Herr Corsa, gibt es den Rechtsanspruch. Für Ganztagsschulen nicht. Wie viele Eltern suchen Ihrer Information nach einen Ganztagsplatz und bekommen keinen?
    Corsa: Ach, Herr Meurer, wenn ich das genau wüsste? Wir haben von zum Beispiel Professor Klemm Zahlen vorliegen bei Befragungen in Nordrhein-Westfalen, dass etwa 70 Prozent gerne eine Ganztagsschule nutzen würden, Ganztagsangebote. Nur konkrete Zahlen wissen wir nicht. Aber der Ausbau – wir merken ja, innerhalb von zehn Jahren hat sich der Bedarf verdreifacht.
    Ganztagsbetreuung im Kita-Bereich besser
    Meurer: Und wie viele haben einen Ganztagsplatz? 70 Prozent wollen, wie viele haben?
    Corsa: Wir sagen, die Zahlen schwanken so ein bisschen, etwa ein Drittel der Schülerinnen und Schüler nutzen die Ganztagsangebote im Moment.
    Meurer: Und das dauert jetzt noch zehn Jahre, die Lücke von 33 bis 70 Prozent aufzufüllen?
    Corsa: Wenn Sie überlegen, dass im Jahr 2002 es nur neun Prozent waren, die einen Ganztagsplatz bekommen konnten, jetzt sind es über 30 Prozent, wenn wir in dieser Geschwindigkeit weiter ausbauen, dann sind wir relativ schnell da.
    Meurer: Das heißt, an der Quantität beim Ganztagsausbau haben Sie wenig zu monieren, Herr Corsa. Wie steht es denn hier um die Qualität der Ganztagsbetreuung an den Schulen?
    Corsa: Da würde ich sagen, da sind wir im Kita-Bereich besser, also bei den Kindertagesstätten. Wir sagen in der Jugendhilfe, es gibt nicht die richtige konzeptionelle Linie für den Ganztag. Unsere Diskussion ist, da wo Ganztag draufsteht, sollte bitte schön auch Ganztag drin sein. Wir beobachten, dass da in der Praxis viel gebastelt wird, um eine Möglichkeit zu schaffen.
    Meurer: Wo ist denn nicht Ganztag drin?
    Corsa: Na ja, für uns ist Ganztag im Sinne einer neuen Bildungsoffensive nicht, dass wir die Unterrichtsschule einfach in den Nachmittag reinziehen. Oder es gibt einen zweiten Bereich, wo wir auch sehr vorsichtig sind, ob das denn einem Qualitätsanspruch eigentlich entspricht, wenn vormittags Unterrichtsschule ist, also Halbtagsschule, und am Nachmittag mit irgendwelchen Hilfskräften Nachmittags-Betreuungsangebote gemacht werden. Wir hoffen, dass es in Deutschland zu einer stärkeren Konzeptdiskussion kommt über einen rhythmisierten Tag, wo es zwischen Unterrichtsschule und anderen nonformalen Bildungsmöglichkeiten eine gute Mischung gibt.
    Im Spiel Lebenspraxis lernen
    Meurer: Wie sieht ein solcher idealer Tag in einer Ganztagsschule aus?
    Corsa: Da streiten sich auch die Pädagogen. Ich kann Ihnen mal mein Bild sagen. Da wechselt Unterrichtsschule, also der notwendige Bedarf, die Basics des Lebens zu lernen, ab mit Spielmöglichkeiten, weil wir wissen, gerade im Kinderbereich, aber auch im Erwachsenenbereich, über Spiel ist Lernen ganz nah an den Menschen dran. Man lernt Lebenspraxis, man lernt Entscheidung bis hin dann dazu, dass die Zivilgesellschaft vorhanden ist durch Sportvereine, durch Naturschutzvereine und Ähnliches, die ja auch ein sehr praxisorientiertes Lernen haben.
    Meurer: Was sagen Sie denn, Herr Corsa, zu der grundsätzlichen Kritik, die es immer noch gibt, mit den Ganztagsschulen nehmt ihr doch nur den Kindern ihre Kindheit, die können nachmittags gar nichts mehr machen?
    Corsa: Ja, da ist im Grundsatz natürlich was dran. Aber da müssen wir auch sagen, die ganze Lebenswelt von Eltern hat sich verändert. Der Bedarf von Eltern, auch Familie und Beruf in Einklang zu bringen, ist deutlich größer geworden. Das war vor 20 Jahren noch was ganz anderes. Das ist sicher das eine, aber das andere will ich auch noch mal sagen. Wenn Schulen dann so gestaltet sind, dass Kinder miteinander spielen können, vor allem im Grundschulbereich, dann sehe ich da die große Gefahr noch nicht.
    Meurer: Und wo sehen Sie die Gefahr, in weiterführenden Schulen?
    Corsa: Ja. In weiterführenden Schulen würde ich schon sagen, wir müssen wahrnehmen, dass Jugendliche auch den Bedarf haben, selbständiger zu werden, eigenständiger zu werden. Mir geht es so: Ich komme aus der kinder- und Jugendarbeit. Ich würde auch sagen, es ist falsch eine Entscheidung, dass Jugendliche nur an einem Ort und die Logik eines Ortes kennenlernen. Wir müssen sie auf die komplexe Gesellschaft vorbereiten und sie müssen dann mit 14, 15 durchaus auch andere Orte kennenlernen, an denen sie sich engagieren können, und das kann nicht nur in der Schule, im Gebäude und im Gelände der Schule sein.
    Meurer: Mike Corsa ist Gastgeber des Deutschen Kinder- und Jugendhilfetages, der heute in Berlin zu Ende geht. Herr Corsa, danke schön! Viel Erfolg noch mit dem Kongress.
    Corsa: Danke schön! Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.