Donnerstag, 28. März 2024

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Quell der Behaglichkeit

Von manchen Gegenden der Weltliteratur hat man eine klare Vorstellung: Jeder weiß, wie der Mittlere Westen der USA aussieht, jeder kennt Venedig, auch wenn er nie dort gewesen ist, und die putzigen Landstädte auf der britischen Insel halten vom Teezeremoniell bis zum Nachbarschaftsklatsch ebenfalls wenig Überraschendes bereit. Die englische Provinz ist ein Quell des behaglichen Erzählens. Kaminfeuerliteratur entsteht dort, und abweichendes Verhalten wird nie offen gerügt, weil Exzentrik seit jeher ein Geburtsprivileg britischer Staatsbürger darstellt.

Florian Felix Weyh | 27.11.2003
    Auf den ersten Blick ist das auch in Suffolk der Fall, jenem Landstück nordöstlich von London, aber nur auf den ersten Blick. Denn im fiktiven Städtchen Swaithey der Autorin Rose Tremain haben die Menschen ungewöhnliche Probleme, die allesamt damit zusammenhängen, dass ihr Leben in der Provinz Anfang der fünfziger Jahre eben nicht nur pittoresk verläuft, sondern vor allem in den Bahnen eines starren Lebenskorsetts. Was einer wird, bestimmt die Tradition, nicht die persönliche Neigung. Etwa bei Walter Loomis, der in eine Fleischereidynastie hineingeboren wird und das blutige Handwerk erlernen muss, obwohl er viel lieber Countrysänger würde. Oder bei Timmy Ward, dem der verwahrloste Bauernhof des Vaters wie ein Klotz am Bein hängt, bis er sich in die Religion flüchtet und unter erheblichen intellektuellen Mühen ein Priesterseminar absolviert.

    Am stärksten jedoch fällt der Konflikt bei seiner Schwester Mary aus. Schon mit sechs Jahren bemerkt sie, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Genauer: Dass sie gar nicht Mary ist, sondern Martin – ein Junge. Die organischen Tatsachen stimmen nicht mit der psychischen Identität überein, und das ist im Suffolk der fünfziger Jahre ein verheerender Befund. Begriffe wie »Transsexualität« hat nicht einmal Miss McRae, die verständnisvolle Lehrerin Marys, je gehört, geschweige denn, dass es sich dabei nicht um eine exzentrische Marotte, sondern um eine existenzielle Not handelt.

    So beginnt ein langer, schwieriger Selbstfindungsweg der falsch geborenen Mary, der über London bis nach Amerika führt und Stufe um Stufe die Umwandlung vollzieht. Zunächst auf der äußerlichen Ebene von Kleidung und Verhalten, dann aber auch mit operativen Mitteln. Fast dreißig Jahre vergehen, bis Marys Mutter am Ende des Buches endlich ihren »Sohn« als solchen anreden kann: »Lieber Martin«. Dabei liegt ihr das Abweichende selbst nicht fern; lange schon befindet sie sich wegen starker Depressionen in psychiatrischer Behandlung, und Marys Vater hat sich – von den Lebenswegen seiner Kinder zutiefst verstört – mit dem eigenen Jagdgewehr erschossen.

    Düstere Verhältnisse. Diese Kleinstadt mit ihren problembeladenen Bewohnern ist keine Insel der Glückseligen, und doch zählt Swaithey zu jenen fiktiven Orten, die man nicht so schnell vergisst. Das liegt an der literarischen Qualität dieser in Deutschland unbekannten Autorin Rose Tremain. Mit großem Geschick umgeht sie alle jene Fallstricke, die sie sich durch die Themenwahl und deren zeitliche Ansiedlung selbst gelegt hat. Nichts läge näher, als Marys Leidensweg in einen typischen Coming-Out-Bericht zu verwandeln, der zielstrebig hinein in die grellen Subkulturen des Swinging London und in die schillernde Travestiekultur San Franciscos führte.

    Auf derart billiges Zeitkolorit verzichtet Rose Tremain glücklicherweise gänzlich, um statt dessen einen Roman der biographischen Transformationen zu schreiben. Nicht nur Mary ist am Ende des Buches ein anderer Mensch geworden, auch ihr Bruder Timmy, der unglückliche Fleischer Loomis und etliche andere Bewohner Swaitheys haben die Kraft der evolutionären Veränderung erfahren. Zum Reifeprozess gehören allerdings auch die Qualen der Verzagtheit und das zeitweilige Gefühl von Ausweglosigkeit. Beides erspart die Autorin ihren Lesern keineswegs, schafft aber damit ein menschlich anrührendes, die Seele kräftigendes Buch. Niemand sollte sich von der Lektüre der »Umwandlung« abschrecken lassen, nur weil es darin um Randgruppen geht. In einem Korsett, dessen Ösen und Haken wir nicht alleine lösen können, stecken wir alle auf die eine oder andere Art und sind damit den Bewohnern Swaitheys ganz nahe.