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Quer über die Gleise

Seine Größe sei die Einheit von Geduld und Trauer, von Empfindsamkeit, Zorn und Genauigkeit gewesen, schrieb Heinrich Böll über Uwe Johnson. Geboren vor 75 Jahren in Pommern, war Johnson früh nach Mecklenburg gekommen, deren Landschaft als seine wahre Heimat in seinen Büchern weiterlebt.

Von Christian Linder | 20.07.2009
    Nicht nur für den Kritiker Reinhard Baumgart war Uwe Johnson "der Schwierigste der Freunde". Denn obwohl Freundschaft für Johnson viel bedeutete, war um ihn herum zugleich eine sonderbare Einsamkeit und Trauer, die verhinderten, dass Freunde wirklich an ihn herankamen. In dieser Sonderbarkeit blieb Johnson ein Querkopf - und so schrieb er auch, gemäß dem berühmten Satz seines ersten Buches "Mutmaßungen über Jakob":

    "Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen."

    Der Roman erzählte auf vertrackt-geheimnisvolle Weise eine deutsch-deutsche Geschichte, die in Mecklenburg ihren Anfang nahm, für Uwe Johnson seine Heimatlandschaft, obwohl er ursprünglich in Pommern geboren wurde, am 20. Juli 1934 in Cammin; bei Kriegsende war er mit seiner Mutter ins westliche Mecklenburg geflohen. Nähere Umstände seiner Herkunft ließ er gern im Dunkeln:

    "Wie bei allen genügt für mich das Jahr der Geburt: 1934. Mithin war ich fast 11 Jahre, als ich meinem Staatsoberhaupt Adolf Hitler zum letzten Mal begegnete, in einem mecklenburgischen Dorf. Vertrauensvoll und gerissen blickte er da in eine gute Stube, als stünden keine Sowjets vor seinem Bunker, als sei der Reichssender Hamburg immer noch in großdeutschen Händen statt in denen der Angelsachsen."

    Nach der Schulzeit in Güstrow und dem Abitur 1952 studierte Johnson Germanistik in Leipzig - unter anderem bei Hans Mayer. 1959, als "Mutmaßungen über Jakob" erschienen war, zog er nach Westberlin. Die Kritik erkannte sofort seine Bedeutung und ernannte ihn zum "Dichter der beiden Deutschland". Mit Romanen wie "Das dritte Buch über Achim" oder "Zwei Ansichten" blieb er seinem Thema treu. Treu blieb er auch seinen Hauptpersonen, vor allem Gesine Cresspahl, die schon in "Mutmaßungen über Jakob" auftauchte und die er später nach New York umziehen ließ - wo auch Johnson in den späten 1960er Jahren einige Zeit lebte.

    Der vierbändige Roman "Jahrestage - aus dem Leben von Gesine Cresspahl" entfaltet einerseits Erinnerungsbilder an eine Kindheit in Mecklenburg und erzählt andererseits Lebensgeschichte vor dem Hintergrund der Weltgeschichte als Chronologie eines Jahres. Auf den letzten Band mussten die Leser dabei lange warten - wegen einer Schreibblockade, die damit zu tun hatte, dass Johnson sich in seinem Privatleben tief verraten fühlte und sich deshalb von seiner Frau trennte. Zurückgezogen lebte er seit 1975 in Sheerness auf der englischen Insel Sheppey und wurde noch einsamer. Die Post, die er von Sheerness nach Deutschland und Amerika auf den Weg brachte, war Ausdruck dieser Einsamkeit, geschrieben - wenn er denn schon nichts anderes schreiben konnte - aber auch in dem Bemühen, die Stunden säuberlich zu ordnen,

    "in der vorgeblichen Hoffnung, dies werde der ('möglichen') Arbeit zugute kommen, in Wahrheit nur dem Bedürfnis zuliebe, dem Tag Gräten einzuziehen."

    Jeder Brief, jede Postkarte liest sich nicht nur wie ein Nachweis seiner Befindlichkeit, den er, altmodisch treu wie er war, seinen Freunden schuldig zu sein meinte -

    "erzählen kann ich Ihnen nicht viel, denn ich bin durch einen Infarkt gelaufen und gehe selten aus dem Haus"

    - sondern aus jeder Zeile tritt einem Johnson auch noch einmal als ein Schriftsteller entgegen, der mit einer fast peniblen Liebenswürdigkeit seine Umgebung beschrieb. Heimat? Allenfalls Berlin konnte er als Heimat akzeptieren.

    "Wenn ich auch die letzten fünf Jahre irrtümlich woanders gelebt habe, das ist am Anfang eine Saat und bleibt zum Ende eine immer wieder abzuholende Ernte. Jedes Mal, sobald ich den Flugplatz verlasse und die Anfänge von Berlin wieder sehe, bin ich zu Hause und werde mich nie verirren."

    Aber dann fuhr er doch wieder auf seine englische Insel:

    "Nach Sheerness ... zurückgegangen ... Hier verbucht mich die Steuer, hier stehen zwei Zimmer voll mit den Materialien für den Abschluss der "Jahrestage"."

    Sich den vierten und letzten Band abzuringen, war Schwerstarbeit, auch wegen seiner ruinierten Gesundheit. Freunde wussten, dass Johnson, der gerne und viel trank, fast sein gesamtes Werk mit einem Kater im Kopf geschrieben hatte. Die von ihm selber angebotene und geschätzte Lesart seines nur 49 Jahre währenden Aufenthalts in der Welt versteckte er in der Beschreibung einer Begegnung über den Klippen von Dover. Er hatte sich wieder einmal freigegeben und war spazieren gegangen in Kent. Auf einer Bank, "im kalten Wind unter blitzender Sonne", traf er jemanden,

    "der hatte schon lange schweigend sitzen müssen ... Jetzt kam ein Gefährte auf die Bank, den konnte er nach einer Weile ins Gespräch ziehen mit einem Befund über die klimatische Situation. Ein sauberes Wetterchen, gewiss! Es verging eine Weile ... Als die Fremden Abschied nahmen voneinander, sagte der eine, als entrichte er gerne eine Gebühr: Thank you for your company."