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Rabaa-Massaker in Ägypten
Erinnern an das Blutvergießen

Vor zwei Jahren gingen auf dem Rabaa-Platz im Osten der ägyptischen Hauptstadt Kairo Sicherheitskräfte brutal gegen ein Protest-Camp vor. Mehr als 800 Menschen starben. Eine Menschenrechtsorganisation sprach von den "größten Massenhinrichtungen von Demonstranten weltweit". Bis heute wurde niemand zur Rechenschaft gezogen.

Von Jürgen Stryjak | 15.08.2015
    Als Sicherheitskräfte vor zwei Jahren das Protestcamp der Mursi-Anhänger räumten, war der Fotograf Mosa'ab Elshamy 23 Jahre alt. Seine Fotos von dem Blutbad wurden damals weltweit gedruckt. Elshamy hatte die Räumung erwartet. Das Ausmaß der Gewalt hat ihn allerdings überrascht:
    "Das Regime machte deutlich, dass es das Camp satt hatte. Und dass viele Ägypter eine gewaltsame Räumung durchaus befürworten würden. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass es so schlimm kommen würde."
    Fast zwei Monate lang demonstrierten sie hier, auf dem Platz Rabaa Al-Adawiyya in Kairo, die Unterstützer von Muhammed Mursi, dem ersten frei gewählten Präsidenten Ägyptens. Als das Militär Mursi am 3. Juli 2013 stürzte, wurde aus anfänglichen Demonstrationen ein Protestcamp, organisiert hauptsächlich von Muslimbrüdern und anderen Islamisten. Bald waren es Zehntausende, die hier gegen das protestierten, was in ihren Augen ein Militärputsch war. Mosa'ab Elshamy erinnert sich:
    "Das Leben in dem Protestcamp war geprägt von einer revolutionären, rebellischen Atmosphäre und von Entschlossenheit. Die Menschen fühlten sich betrogen. Sie glaubten, dass sie keine andere Wahl hatten, als zu protestieren – und notfalls dort zu sterben."
    Die Anhänger Mursis forderten seine Rückkehr ins Amt. Doch das Militär dachte nicht im Traum daran. Es sprach von der Rettung Ägyptens vor den Muslimbrüdern. Die Mursi-Anhänger hingegen behaupteten, die Demokratie retten zu wollen. Dass Mursis Rückkehr mit jedem Tag unwahrscheinlicher wurde, machte die Menschen auf dem Platz nur noch entschlossener.
    "Es war, als würde man eine dieser großen Moscheen in Kairo betreten. Gebete waren zu hören, die die Leute dazu aufforderten, entspannt zu bleiben und an den Sieg zu glauben."
    So feierte das Publikum zum Beispiel euphorisch einen Mann, der verkündete, dass jemand in Medina, der Stadt des Propheten, davon geträumt hatte, wie der Erzengel Gabriel den Rabaa-Platz besucht.
    Wenn die Christen sich mit den Putschisten verbünden, so drohte der Prediger Safwat Hegazy, dann werde man nicht untätig bleiben. Wer Präsident Mursi bekämpfe, müsse mit Blut rechnen.
    Die Hetze zeigte Wirkung. "Ihr Christen lebt hier mit uns", schrie eine Frau ins Mikrofon, "aber wir werden Euch verbrennen".
    Weder Militär noch Mursi-Anhänger an Entschärfung interessiert
    Offenbar waren weder das Militärregime noch die Wortführer der Mursi-Anhänger an einer Entschärfung der Lage interessiert. Am Morgen des 14. August begannen Sicherheitskräfte mit der Räumung des Camps. Der Fotograf Mosa'ab Elshamy:
    "Was ich sah, war, dass mit brutaler Gewalt gegen Menschen vorgegangen wurde, die überwiegend friedlich protestiert hatten – ohne dass man ihnen die Gelegenheit gab, das Camp sicher zu verlassen, ohne dass man Menschenleben schonen wollte. Es ging augenscheinlich darum, so viele Leute zu töten wie möglich."
    Auf Dächern waren Scharfschützen platziert, die in die Menge schossen – offenbar wahllos.
    "Ich sah, wie Frauen getötet wurden. Oder junge Männer, die fast noch Kinder waren. Ich sah einen Sanitäter, der einfach nur seine Arbeit machte – und mit einem Kopfschuss getötet wurde."
    Die Journalistin Enas befand sich in einem Gebäude, das als Notlazarett diente.
    "Der Boden war voller Blut, es kam mir vor, als würde ich in Blut schwimmen. Ich lief die Treppe hoch, auf allen Etagen dasselbe Bild, bis hoch zur sechsten Etage. Es war wie in einem Schlachthaus."
    Mindestens 817 Menschen wurden getötet, berichtet die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Dokumente würden belegen, dass die Räumung von höchsten Regierungsstellen geplant wurde, sagt Sarah Leah Whitson von Human Rights Watch:
    "Es fand ein Treffen hochrangiger Vertreter von Regierung, Militär und Sicherheitsapparat statt, an dem der Innenminister, der Verteidigungsminister und die höchsten Kommandeure teilnahmen. Dort wurde die Räumung geplant und auch vorausgesehen, dass es viele zivile Opfer geben würde."
    Verteidigungsminister war damals der jetzige Präsident Abdelfattah Al-Sisi. Offiziell war das Massaker vom Rabaa-Platz nur eine Schlacht von vielen gegen den Terrorismus, obwohl Muslimbrüdern Terroraktionen nie nachgewiesen wurden. Im Großen und Ganzen wird es aber totgeschwiegen. Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen.
    Der Fotograf Mosa'ab Elshamy glaubt immer noch, dass eine politische Lösung möglich war:
    "Beide Seiten hätten dazu beitragen können, das Blutvergießen zu verhindern, aber weder die Muslimbruderschaft noch das Regime hatten den Willen dazu."