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Rabat, mon amour!

Die großen Touristenströme ziehen zumeist an der marokkanischen Hauptstadt vorbei. Dabei wartet Rabat mit vielen Überraschungen auf. Und neben viel Kultur und Anmut hat die elegante Kapitale auch Meer und Strand zu bieten.

Von Stefan May | 17.06.2012
    Die Lautsprecheransage im Bahnhof von Rabat kündigt Züge aus Tanger, Fes, Meknes an zur Weiterfahrt nach Marrakesch. Orte, die Bilder des geheimnisvollen Orients im Kopf wachrufen. Wer zum ersten Mal nach Marokko reist und vom Flughafen in Casablanca den Zug nach Rabat nimmt, erhält aber einen untypischen ersten Eindruck vom Land zwischen Atlantik, Mittelmeer und Atlasgebirge: Tritt man aus der vornehmen weißen Bahnhofshalle der marokkanischen Hauptstadt, führt nach links die mit hohen Palmen bestandene, blitzsaubere Hauptstraße. Rechts queren die Gleise der Straßenbahn, die vor wenigen Monaten ihren Betrieb aufgenommen hat. Straßenbahnen in Afrika: eine Seltenheit auf dem Kontinent. Rabat mutet mehr europäisch als maghrebinisch an.

    Ein paar Häuserblöcke vom Bahnhof entfernt liegt das Goethe-Institut. Dessen Leiter, Wolfgang Meissner, nennt die Straßenbahn das größte Infrastrukturprojekt der letzten Jahre; etwas, das die beiden Schwesterstädte Rabat und Salé zu beiden Seiten des hier ins Meer mündenden Bou Regreg grundlegend verändern werde. Wir stehen auf der Dachterrasse des Institutsgebäudes und blicken über das Häuser- und Satellitenschüsselmeer bis zum schmalen Strich des Atlantiks am Horizont. Auch für Wolfgang Meissner ist Rabat anders als die meisten anderen Orte in Marokko:

    "Im Gegensatz zu Casablanca zum Beispiel: Es ist bedeutend kleiner, Casablanca hat vier bis fünf Millionen, hier ist eine knappe Million. Es ist eine Gartenstadt, es ist die Hauptstadt natürlich, die umsorgt wird von den einschlägigen Instanzen, Behörden, Kommunalverwaltungen. Es gibt die Protokollstrecken für den König, für die Gäste. Es gibt hier über 100 Botschaften, glaube ich, also Auslandsvertretungen, also alle international wichtigen Organisationen sind hier vertreten. Und die bestimmen natürlich doch einzelne Stadtteile schon sehr stark mit oft. Das Hotelgewerbe, Restaurantgewerbe – das macht es für den Europäer vergleichsweise angenehm hier zu leben. Es ist schon ungleich schwieriger in Casablanca."

    Rabat hat etwas Akkurates: Die Straßenlampen stehen gerade, die Gehwegplatten führen kein Eigenleben, Müll prägt nicht das Stadtbild wie anderswo im Land. Zwischen Bahnhof und Altstadt reihen sich wuchtige Jugendstilbauten mit Balkonen und Fensterläden aneinander, elegante Kleidergeschäfte wechseln mit hübschen Cafés ab. Die Kasbah, die alte Befestigung nahe der Mündung des Bou Regreg ins Meer, ist heute eine stille Wohngegend, geprägt von den einst hier wohnenden Andalusiern, die niedrige blau und weiß gestrichene Häuser hinterlassen haben. Violette Bougainvillea hängt über die ehemaligen Verteidigungsmauern in die so genannten andalusischen Gärten: Zwischen wilden Rosen und Orangenbäumen sitzen hier junge Paare, spazieren untergehakt Studentinnen.
    Jenseits des Flusses erhebt sich wie eine Spiegelung des diesseitigen Ufers die Kasbah von Salé.

    Am Kai liegen Holzboote in abgeschabtem Blau zur Überfahrt bereit: Zwei Minuten dauert sie exakt und kostet zwei Dirham, einen Minimalbetrag, für den in unseren Breiten keine denkbare Dienstleistung erbracht würde. Wie lange werden die Fährmänner noch zwischen den beiden Städten übersetzen, seit die Straßenbahn über eine moderne Brücke ein Stück landeinwärts die beiden Schwestern verbindet?

    Der alte Mann im abgetragenen Wintermantel stemmt sich mechanisch gegen die beiden Ruder und parkt auf der anderen Flussseite punktgenau ein, ohne Anstoßen, ohne Rumpeln. Am Ufer von Salé entsteht so etwas wie eine Hafencity. Die Stadt rückt näher an den unregulierten Fluss. Mehrspurige Palmenalleen führen von der Rohbau-Wildnis ins Zentrum. Wer keine Touristen treffen möchte, ist im Suq von Salé richtig: Läden mit Schmuck, aber auch allerlei Kram wenden sich ausschließlich an die Einheimischen. Ich lasse mich mit dem Kahn wieder zurückrudern und nehme den Linienbus zu den exotischen Gärten von Bouknadel.

    Der Schaffner drängt sich durch die Menge im Bus: In der einen Hand hat er eine Säule aus Münzen und den Kartenblock eingeklemmt. Mit der anderen zeichnet er die Tickets ab und knipst mit der Fertigkeit eines Kartenzauberers das Retourgeld von der Münzsäule wie aus einem Geldautomaten.

    Anfang der 50er-Jahre des vorigen Jahrhunderts hatte der französische Gartenbauarchitekt Marcel Francois den kleinen Urwald vor den Toren von Rabat angelegt: Gummibäume und Farne, Stechpalmen und Philodendren begleiten die Wege, Wasserfälle und Weiher mit Hängebrückchen - es ist die Romantik gestalteter Natur für junge Paare aus Rabat, aber auch ein Wochenendvergnügen für die Familien. Steinerne Labyrinthe wechseln mit Bambushainen und Luftwurzeln, der Lärm der Zivilisation bleibt draußen, nur die Vögel tschilpen und schnattern eifrig.

    In Tümpeln und Wasserlöchern sowie zwischen umgestürzten Baumriesen wurde die Flora dieser Welt nachgebildet: Vom Kongo bis Peru, von den Antillen bis Japan. In einem Vivarium lassen sich hinter Glas in Marokko heimische Tiere betrachten: Würdevoll gezeichnete Schlangen, Skorpione, Eidechsen.

    Es wird Abend, und die Stadt scheint erst jetzt richtig geschäftig zu werden. Gegenüber einem Park öffnen Künstler kleine blau gestrichene Hütten in einer Reihe und stellen Gemälde davor aus: Ein Beispiel für jenes Rabat, wie es die in Berlin geborene Arabistin Sophie Wagenhofer schätzt:

    "Zum einen gibt es ein wahnsinnig reiches kulturelles Angebot in Rabat, es gibt ganz, ganz viele Aktivitäten, es gibt Galerien, es gibt Konzerte, es gibt ein Kinofestival, es gibt eine ganz, ganz aktive junge Theatergruppe von Marokkanern, die in Rabat spielt, das heißt, es ist immer was los. Und was ich besonders toll an Rabat finde, ist, dass es relativ wenig Tourismus in der Stadt gibt, und dass man daher es leichter hat, sich so in das Leben in Rabat zu integrieren, das heißt, wenn man durch die Medina geht, hat man die Möglichkeit auch wirklich in aller Ruhe zu schauen. Es gibt nicht so viele Menschen, die einen ansprechen, die etwas von einem wollen. Und es gibt in Rabat meiner Meinung nach für Europäer wirklich eine gute Möglichkeit in das Leben einzutauchen und das wirklich kennen zu lernen."

    Zu Mittag saßen im Suq noch Männer vor ihren Läden beim Brettspiel: Die Steine des einen waren Kronenverschlüsse, die des anderen Münzen. Nun drängen sich die Einheimischen zwischen den Ständen: An den Babs, den Toren in der Stadtmauer, dampft es und riecht nach Gegrilltem: Merguez, scharfe Bratwürstchen, und Hähnchenstücke liegen auf dem Rost. Aus Metallbottichen werden Kichererbsen ausgeschenkt. Aale zur Rechten, Bettdecken in Tragtaschen zur Linken. Koransuren als Hinterglasbilder und Damenunterwäsche gleich daneben. In der überdachten Rue des Consuls hängen Kelims, über Stangen sind Stoffe geworfen und bilden textile Kaskaden in kräftigen Farben. Auf Obstwagen türmen sich Birnen, Orangen, Granatäpfel und Datteln. Trommelhasen schlagen Wirbel, und von der Fleischertheke glotzen ganze Ziegenköpfe. Ein Stück weiter werden bereits die Rollläden herunter gelassen.

    Tags darauf nehme ich mir als erstes die Chellah am Rand der Innenstadt vor, eine einst römische Siedlung, später Begräbnisstätte muslimischer Würdenträger, laut Sophie Wagenhofer ein besonderer Ort.

    "Es ist eigentlich unglaublich, dass es in einer Hauptstadt, wo wirklich viel los ist, die pulsiert, einen Ort der Ruhe gibt, wo man ganz alleine ist, wo es ganz viele Störche gibt und Tiere und wunderbare Pflanzen, eine alte Ruinenstadt. Und es ist ein ganz, ganz besonderer Ort der Ruhe. Allerdings nicht immer, denn einmal im Jahr findet in der Chellah das Jazzfestival statt. Und da ist einfach ganz Rabat unterwegs, und es spielen Bands aus Marokko, aber auch international, und da wird dieser Ort der Ruhe, diese Nekropole mit ihren ganzen Pflanzen und Tieren in eine Partymeile verwandelt und da ist es schon etwas Besonderes."

    In weiten Schwüngen schweben die Störche über der ehemaligen Totenstadt, die heute ein wilder Park ist, und lassen sich in ihren Nestern auf einem Minarett, dessen zartgrüne Fliesen die Zeiten überdauert haben, und den Bäumen ringsum nieder. Gelbe, orange und tiefblaue Blumen überwuchern die alten Gräber, Blütenkelche streben in dem verwunschenen Garten der Sonne entgegen, Alleebäume haben einen Weg zum Naturtunnel gemacht. Ein Nymphäum mit noch etwas Wasser im kreisrunden Becken und steinernen Nischen rundum weist auf die Zeit der Römer hin. Lange ließe sich hier in der milden Morgensonne sitzen, schauen und horchen.

    Sophie Wagenhofer: "Ich saß tatsächlich mit einer Freundin zusammen in der Chellah und dachte, wie wahnsinnig schön dieser Ort ist und wie wunderbar es eigentlich wäre, hier für längere Zeit zu leben, und da ist dann wirklich die Frage aufgekommen, unter einem Baum im Schatten, ja, warum eigentlich nicht? Und daraufhin habe ich meine Sachen gepackt und ein Jahr in Rabat gelebt. Und es war sehr, sehr schön."

    Das meinen offenbar auch die Einwohner von Rabat: Von der Chellah führt der Weg, vorbei an den Ministerien und den Mauern der königlichen Residenz, hinauf zum Hassanturm, wo die Familien den Sonntagnachmittag lagernd in einem breiten Grünstreifen verbringen.

    Unten füllt sich gegen Abend der Kai: Kleine Jungs skaten, noch kleinere lassen Drachen steigen. Gesponnener Zucker wird verkauft. Hübsche Rabaterinnen und lässige Rabater flanieren. Paare halten Händchen und ältliche Freundinnen wackeln durchs Gewühl. Rabat ist keine typisch marokkanische Stadt. Wolfgang Meissner vom Goethe-Institut wählt das französische Wort für eine junge multikulturelle, multiethnische Frau, um sie zu beschreiben.

    "Wenn es Städte gibt, die Metissen sind, ist es eine Metisse, ja. So lebt sie auch, so gibt sie sich auch, ja."