Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Radikale Subjektivität und brillante Polemik

Die literarische Reportage war eine seiner wichtigsten Ausdrucksformen. Der Schweizer Publizist Niklaus Meienberg provozierte, mischte sich politisch ein und stritt leidenschaftlich für das, was er als Wahrheit erkannte. Anlässlich seines 20. Todestages wurde ein Teil seiner literarischen Reportagen wieder veröffentlicht.

Von Ralph Gerstenberg | 20.09.2013
    "Dass man halt provoziert und zwar manchmal mit wenig konkreten Folgen, das kann man nicht ändern. Man kann aber auch nicht sagen, dass jede Provokation deshalb einfach abgelehnt werden muss."

    Der Schweizer Publizist Niklaus Meienberg brauchte die öffentliche Auseinandersetzung wie die Luft zum Atmen. Stets polarisierend, wurde er geliebt und gehasst, geehrt und gefürchtet. Seine Reportagen, Artikel, Aufsätze und Gedichte bestachen durch radikale Subjektivität und brillante Polemik. Meienberg wollte und konnte sich mit den Zumutungen dieser Welt nicht abfinden. Soziale Ungerechtigkeit fand er ebenso unerträglich wie die weitverbreitete Bereitschaft, davor die Augen zu verschließen. Geboren wurde der streitfreudige Publizist am 11. Mai 1940 im beschaulichen St. Gallen. Der Vater, ein Bankbeamter im Außendienst, war selten zu Hause. Um die Erziehung kümmerte sich die Mutter. Sie war es auch, die Meienberg zum Schreiben brachte.

    "Ich fühlte mich oft unter Rechtfertigungsdruck, meine Existenz oder meine Tätigkeiten zu beschreiben (…) Das hing damit zusammen, dass die oberste Schreibinstanz in unserer Familie, quasi die personifizierte Nachrichtenagentur, meine Mutter war, welche wirklich sehr gute, sehr lebendige Briefe geschrieben hat, welche mich auch animierten, zurückzuschreiben. (…) Und da hab ich mir schon Fragen gestellt: Woher kommt mein Schreibbedürfnis, meine Schreibwut und dieser Rechtfertigungsdruck? Mit Schreiben kann man irgendwie beweisen, dass man etwas geleistet hat."

    Nach Primar- und Sekundarschule wurde Meienberg aufs katholische Internat nach Disentis geschickt. Ein Benediktinerkloster aus dem 8. Jahrhundert, 1134 Meter über dem Meeresspiegel. Meienberg fiel durch besondere Frömmigkeit auf, aber auch durch seinen Hang zum Widerspruch. Später suchte der ehemalige Klosterschüler diesen Ort immer wieder auf, um zu singen und zu beten - was ihn nicht daran hinderte, sich satirisch mit dem sexualfeindlichen Reglement in der Benediktinerabtei auseinanderzusetzen.

    "Zöglingsgesang, bevor sie in die Betten schlüpften im Schlafsaal, riesengroß, bewacht vom sogenannten Schlafsaalmeister. Das war die sogenannte Komplet, benediktinischer Nachtgesang, gesungen vor dem Einnachten, das war die gewaltige Melodei, lateinisch schöner als deutsch: "Herr, die Träume mögen weichen und auch die nächtlichen Hirngespinste, halt unseren Feind dar nieder, damit die Körper nicht beflecket werden."

    Nach der Matura und einem Jahr als Bürokraft und Bulldozerfahrer in den USA, begann der 21-Jährige ein Geschichtsstudium in Freiburg, das er in Zürich fortsetzte. 1966 erhielt er ein Stipendium und ging nach Paris. Hier erlebte er die Straßenkämpfe vom Mai 1968 und wandelte sich vom katholisch-konservativen Historiker zum sozial engagierten, kämpferischen Publizisten. Zurück in der Schweiz wurde das Magazin des Züricher "Tages-Anzeiger" zu Meienbergs publizistischer Heimat. Mit seinen "Reportagen aus der Schweiz" wurde er innerhalb kürzester Zeit zum viel bewunderten und meist gehassten Publizisten der Eidgenossenschaft. 1975 veröffentlichte er "Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S." - eine inzwischen zum Klassiker gewordene Reportage über den Schweizer Underdog Ernst Schrämli, der aus Geldnot und Frustration den Nazis Granaten und Informationen vermittelte und 1942 dafür von seinen Landsleuten erschossen wurde, während hoch angesehenen Bundesräten, die unverblümt mit dem Hitlerregime sympathisierten, "sträfliche Milde" zuteil wurde. "Oben wurde pensioniert, unten wurde füsiliert", konstatierte Meienberg und provozierte damit einen Aufschrei im Lande. "Nestbeschmutzung" lautet üblicherweise der Vorwurf, wenn jemand Dinge beim Namen nennt, die zum Zwecke des moralischen Blitzeblankseins unter den Teppich gekehrt werden sollen. Rückendeckung bekam Meienberg von Max Frisch, der bemerkte:

    "Ein Journalist, der unter anderem untersucht und beschrieben hat, wie ein kleiner Landesverräter zum Tod verurteilt worden ist, damit gegen andere Zeitgenossen und wichtigere, solche in der Generalität, keinerlei Zweifel aufkommt – dieser bekannte Journalist, der auch noch anderes vor die Öffentlichkeit bringt, was ihm ungerecht erscheint und aufschlussreich, ist nicht vor den Richter gestellt worden; denn es stimmt halt, was er geschrieben hat."

    Ein Jahr später erhielt Meienberg von der bürgerlichen Presse die Quittung dafür, dass er sich gewohnheitsmäßig zu weit aus dem Fenster lehnte. Der Verleger des "Tages-Anzeiger" erteilte ihm Schreibverbot. Der journalistische Heimatverlust traf den berühmt-berüchtigten Publizisten schwer. Das Magazin des "Tages-Anzeiger" war wie für ihn gemacht. Rund 30 Reportagen hatte Meienberg zwischen 1970 und 1976 dort veröffentlicht. Später revanchierte er sich mit einem Rundumschlag gegen das konservativ-liberale Publikationswesen.

    "Die Sprache in diesen Blättern ist total kaputt, und eine gförchige Langeweile schlabbert durch diese Buchstabenplantage. Über die wichtigen Sachen bekommt man keine oder wenig Informationen, und die Artikel müssen so gemacht sein, dass sie kein Gefühl bewirken und mit den Gefühlen natürlich auch keine neuen Gedanken. Humor, Frechheit, Sarkasmus, Ironie sind sowieso verboten. Die Sprache im Textteil wird immer mehr beherrscht von der Sprache im Inseratenteil, sodass dieser klebrige Einheitsbrei über das ganze Blatt und über alle Blätter schwappt. Wenn zufällig doch noch ein lebendiger Artikel ins Blatt hineinrutscht, wird der Journalist sofort bestraft statt belohnt."

    In den 80er-Jahren brachte Meienberg mit seinen Artikeln und Reportagen, in denen er auf provokante Weise das politische Selbstverständnis der Schweiz hinterfragte, die Alpenrepublik zum Kochen. Er wurde beschimpft und bedroht. Immer wieder beschäftigten sich auch die Gerichte mit dem "Fall Meienberg". Seinen Anklägern hielt er entgegen:

    "Wenn ihr, geschätzte Feinde, meine Verse juristisch behandeln wollt, anstatt euch selbst einen Vers zu machen auf mich, ein wenig poetische Praxis tut euch gut, dann werden sie ins Publikum gelangen und zitiert an der Gerichtsverhandlung und von Reportern öffentlich gemacht. Mag sein, ihr gewinnt den Prozess, und ich werde verurteilt zu Schadenersatz. Den kann ich aber nicht zahlen, geschätzte Feinde. Ich bin freischaffend, oder wie man das nennt, verdiene fast nichts, und der Schuldturm ist abgeschafft. Und die Schreibmaschine, Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, Töff, Besteck kann man nicht pfänden – und auch die ungeborenen Verse nicht in meinem Kopf. Mehr besitze ich nicht."

    1991 begann der Golfkrieg und damit für Meienberg eine Zeit, in der er Amok lief, um die "Höllenmaschine" aufzuhalten. Er verschickte Faxe, besetzte Redaktionsräume, veranstaltete Pressekonferenzen, suchte Verbündete und stand am Ende, resigniert und ein wenig paranoid, ganz alleine da. Kurze Zeit später wurde er auf offener Straße überfallen, nicht von Rechtsextremisten, sondern ausgerechnet von zwei Nordafrikanern. Ein Eingriff in die Souveränität seines Körpers mit seelischen Folgen. Nach einem Unfall des leidenschaftlichen Motorradfahrers nur wenige Wochen später wirkte der sonst so kraftvolle Mann gebrochen, von Einsamkeit und Selbstzweifeln gezeichnet.

    "Man ist als Schreibender nichts wert, höchstens ein Unterhaltungswert, Diskussionen wird aus dem Weg gegangen, Debatten auch. Wenn man schlecht schreibt, wird man nicht gelesen, wenn man gut schreibt, gilt man als unseriös. Jeder Metzgermeister hat mehr Einfluss und Sozialprestige."

    Am 24. September 1993 wurde Niklaus Meienberg in seiner kleinen Wohnung im Züricher Stadtteil Oerlikon gefunden. Zwei Tage zuvor hatte er Tabletten und Alkohol geschluckt und sich einen Plastiksack über den Kopf gezogen. Neben seiner Matratze lag das Buch "Gebrauchsanleitung zum Selbstmord". Er wurde 53 Jahre alt. Beim Wiederlesen der Neuveröffentlichungen des Limmat Verlages und seiner zahlreichen inzwischen vergriffenen Bücher stellt man fest, dass erstaunlich viele von Meienbergs Reportagen, Betrachtungen, Gedichten Bestand haben. Egal, ob er über die Gentrifizierung der Pariser Innenstadt schrieb, über einen Schweizer Hitler-Attentäter, der von den heimatlichen Behörden schmählich im Stich gelassen wurde, oder über den Tod seiner Mutter, immer ging er mit seinen Texten über den konkreten Anlass hinaus, stellte Fragen über Sinn und Unsinn, Recht und Unrecht und sprengte mit seiner ebenso leidenschaftlichen wie treffsicheren Prosa die Grenzen zwischen Journalismus und Literatur.

    Für die Abmoderation:
    Zum 20. Todestag von Niklaus Meienberg brachte der Schweizer Limmat Verlag Neuveröffentlichungen seiner Reportagen

    Literaturhinweis:
    Niklaus Meienberg: "Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S."; "Es ist kalt in Brandenburg. Ein Hitler-Attentat", Limmat Verlag, 150 bzw. 180 Seiten, 25 Euro.