Donnerstag, 25. April 2024

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Radikalisierung der Reichsbürger-Szene
Aus Ideologie wird Gewalt

Sie erkennen die Bundesrepublik nicht an und zahlen deswegen keine Steuern: Die sogenannten Reichsbürger gibt es seit den 80er-Jahren. In letzter Zeit radikalisieren sie sich und sorgen immer öfter für Schlagzeilen. Trauriger Höhepunkt war eine Schießerei in Bayern, bei der ein Polizist starb. Wie gefährlich sind die Reichsbürger?

Von Vanja Budde | 20.10.2016
    Ein selbst gebastelter Fantasie-Personalausweis einer Frau mit der Aufschrift Deutsches Reich aus dem Jahr 2010.
    Die "Reichsbürger" erkennen die BRD, ihre Institutionen sowie das Grundgesetz nicht an. Anhänger der Bewegung erstellen daher Ihre eigenen Fantasie-Ausweispapiere. (Verfassungsschutz Brandenburg)
    Ein Selbstdarsteller auf Youtube: Reichsbürger Adrian Ursache, selbst ernannter Gründer des Staates "Ur", rund um sein Haus in Sachsen-Anhalt. In den neuen Bundesländern sind die Reichsbürger besonders zahlreich: Etwa 300 zählt der Verfassungsschutz in Brandenburg, der die Szene beobachtet. Sie ist zersplittert in einzelne Grüppchen von notorischen Querulanten, Verschwörungstheoretikern, Antisemiten und Rechtsextremisten.
    Und ihre Zahl hat sich in nur einem Jahr verdoppelt. Die kruden Theorien der Reichsbürger stießen im Milieu der Staatsverdrossenen zunehmend auf Rückhalt, sagt Michael Hüllen vom Potsdamer Verfassungsschutz:
    "Ein bestimmter Teil unserer Gesellschaft diskutiert ja im Moment, ob es so was wie ein Widerstandsrecht gibt gegen Politik. Und Reichsbürger rekurrieren darauf, nehmen das tatsächlich für sich in Anspruch und das ist mittlerweile ein Diskursspektrum, was Sie in den sozialen Netzwerken sehen, was ganz normal unter Menschen mittlerweile auch diskutiert wird."
    Etwa 10 Prozent der Brandenburger Reichsbürger sind Rechtsextreme
    Etwa zehn Prozent der dank Smartphones und Internet gut vernetzten Brandenburger Reichsbürger sind polizeibekannte Rechtsextremisten. Sie sammeln sich in der so genannten "Exilregierung Deutsches Reich", die bundesweit aktiv ist und im "Freistaat Preußen", der hohen Zulauf verzeichnet. Doch das grundlegende Gedankengut der gesamten Szene stammt aus der ganz rechten Ecke, wie Experte Hüllen erklärt:
    "Von ihrer Ideologie nach wurzeln sie tatsächlich im Denken der 60er-, 70er-, 80er-Jahre, als Rechtsextremisten massiv die Souveränität Deutschlands bezweifelt haben. Und Reichsbürger haben diese Thesen aufgenommen und verwenden sie in ihrer tagtäglichen Agitation."
    Die trifft vor allem Finanzbeamte, denn sie haben mit den Reichsbürgern am meisten zu tun, wenn sie deren nicht gezahlte Steuern eintreiben müssen. Ihre Thesen verbreiten die Reichsbürger bevorzugt in ellenlangen E-Mails, um die Behörden möglichst lahm zu legen, seufzt dieser Finanzbeamte, der aus Sicherheitsgründen namentlich nicht genannt werden möchte: "Das ist der Verteiler: Alles Finanzämter!" Der Beamte blättert durch den Ausdruck eines 20 Seiten langen Elaborats von einem Reichsbürger. Seine Kolleginnen und Kollegen werden aber auch beleidigt und persönlich bedroht, wie Hans-Holger Büchler von der Brandenburger Steuergewerkschaft berichtet.
    Finanzbeamte werden beschimpft und sogar bedroht
    "Die stehen dann vor der Privatwohnung, auch solche Fälle gibt es, und das ist nicht (nur) in Brandenburg, sondern auch in anderen Bundesländern schon passiert. Damit will man natürlich zeigen: Ich weiß, wo du wohnst. Und wenn du entsprechend hier agierst, dann kann ich auch entsprechend. Nichts Körperliches, sondern viel, viel mental, viel psychischer Druck wird aufgebaut, aber das ist ja auch das, was Verunsicherung schaffen soll."
    Verunsicherung, die verständlich ist, zumal auch unter Brandenburger "Reichsbürger" Sportschützen und Jäger sind, die Waffen horten. Angesichts der tödlichen Schüsse in Bayern sprach heute auch der Potsdamer Rechtsextremismus-Experte Dirk Wilking vor einer zunehmenden Gewaltbereitschaft der sogenannten Reichsbürger.
    "Wir sind weit davon entfernt, sie nur als irre Spinner zu bezeichnen"
    Auch SPD-Innenminister Karl-Heinz Schröter warnte unlängst vor einer Radikalisierung der Szene. Schon zuvor hatte die rot-rote Landesregierung ein Sicherheitskonzept für die Finanzämter in Kraft gesetzt: Sicherheitsschleusen wurden installiert, Notfallknöpfe getestet und Schulungen anberaumt. "Wir sind weit davon entfernt, sie nur als irre Spinner zu bezeichnen", sagt Michael Hüllen vom Verfassungsschutz:
    "Wir haben tatsächlich auch Entwicklungen vor Ort, wo sich einzelne Bürger oder Bürger, die sich zu Netzwerken, Milieus zusammenschließen, sich tatsächlich auch grundlegend über diese Ideologie informieren, sie nutzen, um aus vielleicht wirtschaftlichen Schwierigkeiten herauszukommen, ich sage mal, das Knöllchen nicht zu bezahlen oder versuchen, sich um die Steuer rumzudrücken. Aber das heißt natürlich schon, dass sich diese Ideologie dann schon vermittelt hat."
    Eine Ideologie, die in Gewalt umschlagen kann. Auch Reichsbürger Adrian Ursache hat im vergangenen Sommer auf SEK-Beamte geschossen und sie verletzt. Vielleicht führt die tödliche Eskalation in Franken nun dazu, dass wie von der Polizeigewerkschaft gefordert, künftig auch das Bundesamt für Verfassungsschutz die sogenannten Reichsbürger überwacht.