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Radikalislamisten erobern Kundus
"Taliban in Afghanistan haben von IS gelernt"

Die Taliban haben von den Erfolgen des Islamischen Staates (IS) gelernt und ihre Taktik geändert, sagte Gert Weisskirchen (SPD) zur Eroberung der Stadt Kundus durch die Radikalislamisten. Verstärkt werde das Vorgehen durch die afghanische Elite, die ihre Aufgaben nicht bewältige, zunehmende Korruption und die Rückkehr von Warlords.

Gert Weisskirchen im Gespräch mit Jochen Spengler | 28.09.2015
    spricht auf dem SPD-Bundesparteitag in der Messe Dresden, aufgenommen am 14.11.2009.
    SPD-Politiker Gerd Weisskirchen (picture alliance / dpa / Michael Hanschke)
    Jochen Spengler: Rund 120.000 Einwohner, gelegen etwa 250 Kilometer nördlich von Kabul - dort in der afghanischen Provinzhauptstadt Kundus zeigte die Bundeswehr zehn Jahre lang von 2003 bis 2013 Präsenz. Vor zwei Jahren beendete sie ihren Einsatz und der damalige Außenminister Guido Westerwelle sagte, wir kehren den Menschen in Afghanistan nicht den Rücken zu. Seit heute weht in Kundus die Flagge der Taliban, die Aufständischen haben die Stadt in nur einem Tag eingenommen. Vor der Stadt haben die afghanischen Streitkräfte Stellung bezogen.
    Am Telefon begrüße ich zu später Stunde den SPD-Politiker Gert Weisskirchen, der bis zum Jahr 2009 Bundestagsabgeordneter war und sich vor allem mit Außenpolitik befasst hat. Guten Abend, Herr Weisskirchen.
    Gert Weisskirchen: Schönen guten Abend, Herr Spengler.
    Spengler: Was ging Ihnen denn als erstes durch den Kopf, als Sie hörten, Kundus ist gefallen?
    Weisskirchen: Natürlich der schreckliche Gedanke, dass damit, wenn weitere militärische Niederlagen zu befürchten sein werden, dass dann Afghanistan wieder völlig in die Hände von Extremisten fallen kann.
    Taliban-Vormarsch zeichnet sich ab
    Spengler: Das heißt, Sie schätzen die Chancen der afghanischen Regierungstruppen, die jetzt vor Kundus stehen sollen, nicht besonders groß ein, die Stadt zurückzuerobern?
    Weisskirchen: Das ist schwer zu beurteilen im Augenblick. Aber man muss fürchten, dass die Offensive, die traditionelle Sommeroffensive nun wirklich dazu führen wird, dass Punkt für Punkt bestimmte große, wesentliche Regionen, die für den Zusammenhalt in Afghanistan von großer Bedeutung sind, fallen könnten, und dann zerbröselt dieses Land erneut.
    Spengler: Das bedeutet für das Land insgesamt, die Taliban sind auf dem Vormarsch?
    Weisskirchen: Das hat sich schon seit einiger Zeit abgezeichnet. Hinzu kommt natürlich, dass die neue politische Elite in Afghanistan ihre Aufgaben nicht bewältigt hat. Korruption ist in einer Weise offenbar noch stärker explodiert, als je zuvor, Warlords kehren zurück, also all das, was man erwartet hätte, dass innerhalb des Landes sich die vernünftigen Gruppierungen durchsetzen, das ist offenbar in sich zusammengebrochen.
    Spengler: Was bedeutet der Fall von Kundus denn für uns, für Deutschland, dessen Sicherheit ja am Hindukusch verteidigt werden sollte?
    Weisskirchen: Nun, es war zu befürchten, wenn die NATO-Truppen sich zurückziehen - am Ende diesen Jahres sollen ja auch die US-Truppen sowie die NATO im Grunde genommen nur noch auf relativ begrenzte Bataillone zurückbleiben -, wenn die afghanische Armee nicht stark genug die Lücken füllen kann, dass dann es zu ganz erheblichen Gefahren innerhalb des Landes kommen könnte, und das ist nun leider eingetreten.
    Afghanische Armee zu stärken ist konterkariert worden
    Spengler: Ist denn der Fall von Kundus auch ein Symbol dafür, dass die deutsche und die westliche Afghanistan-Politik gescheitert ist?
    Weisskirchen: Das kann man in dieser Schärfe, glaube ich, nicht sagen. Der Versuch war es, Schritt für Schritt den afghanischen Kräften, Militär, Polizei, das Heft des Handelns in die Hand zu geben, sie dabei zu unterstützen, sozusagen als Partner mitzuhelfen, dass sie die Lücken füllen. Das war die Absicht. Aber jetzt muss man erkennen, diese Absicht ist konterkariert worden, und hier gibt es einen ganz engen Zusammenhang mit der Entwicklung westlich von Afghanistan, also ISIS. Hier scheint mir eine Kopie vorzuliegen. Die Taliban haben offensichtlich gelernt aus den militärischen Erfolgen von IS, ganz bestimmte Taktiken anzuwenden, auch in Afghanistan. Man kann oder man muss fürchten, dass Ahmed Rashid, der ja einer der besten Kenner dieser Regionen ist, recht hat, dass, wenn die Friedensgespräche, die im Juli begonnen hatten, in sich zusammenbrechen, das dann eine ganz große Gefahr für den Zerfall Afghanistans werden könnte und dann eben Taliban wieder vorrücken. Das war seine Sorge und sie ist leider jetzt realisiert.
    Spengler: War denn der Abzug der westlichen Truppen, der Bundeswehr ein Fehler?
    Weisskirchen: Es war insofern kein Fehler, als dass die Strategie entwickelt werden sollte, dass der Rückzug des Westens aufgefüllt werden sollte durch die afghanischen Kräfte selbst. Allerdings man musste fürchten, wenn jene afghanischen Kräfte zu schwach sind, dass dann Taliban und andere Extremisten sich in diesen Lücken breitmachen könnten und einstoßen konnten in eben jene Schwächen, die vom Westen dann zurückgelassen werden. Das ist nun leider jetzt so eingetreten.
    Spengler: Wir haben uns nichts vorzuwerfen?
    Weisskirchen: Das ist eine Frage, die insgesamt historisch zu bewerten sein wird, ob die Art und Weise, wie nach 2001 die massiven militärischen Eingriffe, die der Westen vorgenommen hat, immer wieder neue extremistische Wellen, von Taliban gesteuerten, aber eben auch von afghanischen Extremisten, dann aufgenommen worden sind, verstärkt wurden. Diese Frage muss man sicher auch stellen. Aber sie hilft nun gar nicht weiter, weil Afghanistan in einer höchst schwierigen Situation ist, wie wir ja auch sehen. Es zeichnet sich ja seit vielen Monaten ab. Sie kommen jetzt zu uns als Flüchtlinge.
    Spengler: Gert Weisskirchen, SPD-Außenpolitiker und bis 2009 Mitglied des Bundestages, heute Abend im Deutschlandfunk.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.