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Radiolexikon: Babyschreie

Warum schreien Babys? Klar, um ihre Lungen zu trainieren. Aber ist Schreien schon Kommunikation? Was passiert beim Übergang vom Schreien zum Gurren und zum ersten Wort? Schreien deutsche Babys anders als französische?

Von Mirko Smiljanic | 29.12.2009
    Ein Kreißsaal irgendwo in Deutschland, Sekunden vor der Geburt. Die Mutter presst, der Vater schwitzt, professionelle Hektik, doch die Hebamme hat alles im Griff und wartet nur noch auf den Winzling, der die beschützende Welt des Uterus verlassen soll – von Wollen kann keine Rede sein. Zwei, drei kräftige Wehen, die Mutter presst noch einmal mit aller Kraft, dann ist es geschafft! Das Neugeborene schreit!

    Ein normaler Vorgang, mag mancher denken, doch das stimmt nicht. Schon auf die Frage, warum Neugeborene schreien, gibt es mehrere Antworten. Philosophisch betrachtet drücken die Kleinen zunächst einmal lautstark ihren Unmut darüber aus, die All-inclusiv-Umgebung des mütterlichen Bauches verlassen zu müssen, ...

    " ... die medizinische Erklärung wäre wahrscheinlich die Adaptation an Luftatmung, an das, was auf der Welt anders ist als im Uterus, die phylogenetische Erklärung ist, das Babys schreien, weil sie Kommunikation aufnehmen zu ihren Bezugspersonen, zu ihrer Mutter oder zu anderen engen Bezugspersonen, im Unterschied zu anderen Primaten oder zu anderen Tieren, die ja nicht schreien, wenn sie auf die Welt kommen."

    … sagt Professor Kathleen Wermke, Leiterin des Zentrums für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen an der Universität Würzburg. Nur Menschenbabys schreien unmittelbar nach der Geburt, was auch bedeutet: Sie verfügen von der ersten Sekunde an über einen fast voll ausgebildeten Stimmapparat. Die Muskulatur des Kehlkopfes, Mediziner sprechen von der Larynx, ist noch etwas anders aufgebaut als bei Erwachsenen, gleiches gilt für die neurologische Steuerung, um die Bewegung der Stimmlippen zu koordinieren – doch im Grundsatz sind die Stimmapparate von Neugeborenen und Erwachsenen fast gleich.

    "Die Energie kommt aus den Lungen, subglottischer Druck nennt man das, die Lippen werden in Schwingungen versetzt und dann durch Nervenimpulse noch geregelt, und dann geht der Laut vom Kehlkopf über den supralaryngealen Trakt, also über den Vokaltrakt, Mund, nach draußen, sehr viel verändert sich am Klang nicht, ein bisschen etwas, aber eigentlich ist es der Klang, der an den Stimmlippen erzeugt wird, weil Artikulation, also bewusstes Verändern des Klanges durch Resonatoren wie Zunge, Kiefer oder dergleichen, ist ja beim Baby noch nicht möglich, aber die laryngeale Lautproduktion ist der unseren sehr ähnlich und die sind schon ziemlich fit, was die Steuerung dieser Mechanismen betrifft, also Sie sind schon fit, Melodievariationen, Rhythmikvariationen schon in den ersten Stunden und Tagen nach der Geburt zu erzeugen."

    Melodien und Rhythmen von Babyschreien sind abhängig davon, wie sich das Kind fühlt. Schmerzschreie hören sich anders an als Hungerschreie, gelangweilte Babys anders solche mit vollen Windeln. Fühlt sich das Kind wohl, schreit es natürlich auch.

    Bei Schmerzen klingt es schon ganz anders.


    Und wenn es sich wohlfühlt, keinen Hunger hat, ausgeschlafen ist und die Mutter mit ihm spielt, babbelt es schon mal.

    Jungen schreien etwas anders als Mädchen, die Harmonien ihrer Klänge sind nicht ganz so rein, aber das spielt im alltäglichen Leben zwischen Baby und Eltern keine Rolle. Entscheidend ist etwas anderes: Babys kommunizieren mit ihrer Umwelt. Sie teilen ihren Bezugspersonen "schreiend" mit, ob die Windeln voll sind, ob sie schlafen möchten, ob sie Hunger haben oder ob ein Blähbauch sie quält. Diese "Sprache" müssen Eltern nach und nach lernen – sagt Birgit Mampe, Sprachheilpädagogin an der Universität Würzburg.

    "Das ist sicherlich ein Lernprozess, genauso wie die Mutter ja feststellen muss, in welchem Rhythmus das Baby gestillt werden möchte, muss sie auch lernen, was das Baby in welcher Situation in Anführungsstrichen sagt, also, wie es schreit, ob es viel schreit, ob es wenig schreit, wie sich das anhört, das ist mit Sicherheit ein Lernprozess."

    Dabei machen Eltern die Erfahrung, dass die Schreie des Babys – also ihre "Sprache" – immer komplexer wird. Manchmal von einem Tag zum nächsten.

    "Die Neugeborenenschreie zeichnen sich zunächst aus durch ansteigende und nachfolgend abfallende Melodie, sehr einfache auf- und absteigende Tonhöhen und damit einfache Melodiebögen, die werden als Grundbausteine dann kombiniert zu Doppelbögen, Dreierbögen, Viererbögen, die dann auch noch unterbrochen sein können durch bewusste Pausensetzung, und auf diese Art und Weise schafft es das Baby schon in seinen frühen Weinlauten ein komplexes Repertoire an rhythmisch-melodischen Äußerungen, die unserer Meinung nach Grundlage für das sind, was wir in der späteren Sprache Prosodie nennen, nämlich Melodie und Rhythmus der Sprache."

    Ein wichtiger Zeitpunkt, sagt Kathleen Wermke von der Universität Würzburg, beginnt nach zwei Monaten.

    "So ab der achten Lebenswoche, teilweise früher, teilweise später, setzen die sogenannten Gurrlaute ein, dass die Kinder also nicht nur schreien an den Stimmlippen, sondern auch den Vokaltrakt mit einbeziehen in diese Artikulation und einfache Protokonsonanten produzieren, ..."

    ... was sich dann so anhört:

    Und noch ein Beispiel:

    Die Kinder experimentieren mit ihrer Stimme und – ein wichtiger Punkt – sie lernen von den Eltern.

    "Imitation spielt im kindlichen Verhalten eine ganz enorme Rolle, Kinder lernen ja durch Imitation, und das tun sie auch durch stimmliche Imitation, das ist eine fantastische Leistung, wenn man sich überlegt, wie früh Kinder das Gehörte auch nachahmen in ihrer eigenen Lauteproduktion, dann kann man erkennen, wie das Gehirn unserer Menschenbabys vorgeeignet oder präadaptiert ist, Sprache zu erlernen."

    Welche Sprache sie lernen, spielt dabei keine Rolle. Sie sind in dieser frühen Phase für alles offen, für Deutsch ebenso wie für Koreanisch oder einen Indianerdialekt. Und doch hat sie der Sprachraum, in den sie hineingeboren worden sind, schon vor der Geburt geprägt. Deutsche Babys schreien anders als französische. Dies ist ein deutsches Baby:

    Und dies ein Französisches:

    Noch einmal das deutsche Baby, ...

    ... und hier das Französische:

    "Das ist zunächst mal eine schnell steigen langsam fallenden Melodie, das wäre die typisch deutsche Melodie, und der letzte Typ zeigt die typische französische Melodie mit einer langsam steigenden, schnell fallenden Kontur."

    Das sei kein Zufall, sagt Kathleen Wermke, die Babys imitieren beim Schreien, was sie im Mutterleib gehört haben.

    "Wenn sie einem französischen Sprecher zuhören, dann wird Ihnen auffallen, dass er an ganz verschiedenen prosodischen Einheiten, also Wörtern oder Phrasen, innerhalb eines Satzes immer die Stimme hebt am Ende, während das im Deutschen durchaus seltener der Fall ist, es sei denn wir stellen Fragen, dann tun wir das natürlich auch, das heißt, sie Franzosen haben immer wieder auch mit den Sätzen eine steigende Melodie, während die Deutschen eher eine fallende Melodie haben, und das können Sie auch in dem Babyschreien gut hören, wenn sie sich typische Beispiele anhören, dann kann man es auch sehr gut erkennen."

    Deutsche Kinder sagen Pápa, französische Papá.

    "Wir denken, dass es dadurch zustande kommt, dass die Kinder ab dem fünften Schwangerschaftsmonat durchaus schon hören können, zwar in etwas abgeänderter Form durch das Fruchtwasser, das sie umgibt und das mütterliche Gewebe, aber die mütterliche Stimme und damit auch die Muttersprache werden verstärkt natürlich über die Knochenleitung wahrgenommen, und insofern könnte durchaus vorgeburtliches Lernen und eine vorgeburtliche Prägung auf die Muttersprache hin passieren."

    Bleibt zum Schluss die Frage, was Eltern tun können, wenn ihre Kinder einfach zu viel schreien? Auf jeden Fall rechtzeitig zum Kinderarzt gehen; und möglichst die Ruhe bewahren – für das Kind und für sich selbst.

    "Man muss mit besonders viel Ruhe und Gelassenheit versuchen, dem Kind Sicherheit zu geben und störende Dinge, wie Fernsehapparate zum Beispiel oder laute Musik oder laut Umweltgeräusche zu vermeiden, um den Input, dem das Kind aus seiner Umgebung erhält, nicht noch künstlich zu erhöhen, ..."

    ... denn irgendwann entwickelt sich aus dem Schreien, Gurren und Babbeln das erste Wort!