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Radiolexikon: Die Melancholie

Mönchskrankheit, Leiden an der Welt, Seelenzustand bei erhabenen Dichtern: Die Melancholie ist ein Zustand, der historisch vorwiegend bei bürgerlichen Männern festgestellt wurde. Der heutige gängig Begriff der Depression lässt Geschlechtsunterschiede außen vor: Jeder kann daran erkranken.

Von Andrea Westhoff | 07.05.2013
    Zu allen Zeiten haben Musiker, Dichter, Maler oder Bildhauer ihre dunkelsten seelischen Momente zu anrührend schönen Werken verarbeitet und damit gezeigt, welch ein vielschichtiges Phänomen die Melancholie ist, die selbst mit so poetischen Bezeichnungen wie Schwermut, Trübsinn, Selbstverlorenheit, Weltschmerz oder Seelenfinsternis nicht ganz erfasst wird.

    Dabei ist der griechische Name "Melancholia" eigentlich eher prosaisch: Er setzt sich aus den Begriffen "mélas" – schwarz und "cholé" – Galle zusammen und führt zurück in die antike Vier-Säftelehre. Professor Volker Hess, Leiter des Medizinhistorischen Instituts der Berliner Charité:

    "Der Grundgedanke ist der, dass sich die Gesundheit, die körperliche Konstitution aus der Zusammensetzung der vier Kardinalsäfte bestimmt, und diese vier Kardinalsäfte sind eben die gelbe Galle, die schwarze Galle, der Schleim, und auch das Blut. Und wenn die schwarze Galle, die Melancholie, überwiegt oder im Vordergrund steht, dann haben die betreffenden Menschen eine besondere Konstitution, ein Temperament, eine Wesensart, die dann als melancholisch begriffen wurde."

    Diese Viersäftelehre oder Humoralpathologie hat das Denken der Medizin von der Antike bis weit ins 19. Jahrhundert bestimmt. Im Mittelalter allerdings kam zu der bloßen Zustandsbeschreibung, dass jemand zu viel schwarze Galle in sich trägt, noch eine religiöse Wertung hinzu: Die Melancholie wurde nun auch "Acedia" <azedía> genannt, was man in etwa mit "Trägheit des Herzens" übersetzen kann. Und die gehört zu den sieben Todsünden, weil sie ein Hadern mit der Welt, also mit der göttlichen Schöpfung, bedeutet. Der Leiter der katholischen Akademie zu Berlin, Joachim Hake, beschreibt, wie man sich diese "Gemütslage" vorgestellt hat, die auch als "Mönchskrankheit" bezeichnet wurde:

    "Für die Mönche war die Acedia der Kampf mit dem Mittagsdämon: Da steht die Zeit still, und es ist die Zeit der Versuchung und der Müdigkeit, bei Evagrius Ponticus gibt es die schöne Schilderung, wie der Mönch immer wieder zur Tür schaut, ob da jemand kommt, dann will er raus, dann blättert er in der Bibel, knickt die Seiten, blättert vor, blättert zurück, also die Beschreibung eines Erschlaffens der geistigen und körperlichen Kräfte: Apathie, Pessimismus bis zum Weltekel und Menschenverachtung, gleichgültiger Zynismus, eine Art von Abschottung, ein Verlust an Wir-Gefühl, das greift sehr weit."

    Die Todsündenlehre gilt in der katholischen Theologie zwar bis heute, hat aber ihre praktische Bedeutung verloren. So konnte sich die Melancholie als medizinischer Begriff gegen die "Acedia" durchsetzen. Im ausgehenden Mittelalter wird sie dann – wie zuvor schon in der Antike – sehr breit verstanden – und ambivalent, sagt Professor Volker Hess:

    "Also wenn man, beispielsweise in der Kunst, an die Konzeption der Melancholie bei Dürer denkt, dann ist die Melancholie auf der einen Seite diese Verlorenheit und gleichzeitig ein Moment, aus dem der Künstler Kreativität schöpft."

    </azedía>
    Ein Merkmal großer Denker und Künstler
    Auf Dürers berühmtem Kupferstich "Melencolia I" sieht man einen Engel, umgeben von Utensilien wissenschaftlicher Erkenntnis wie Zirkel oder Waage – den Kopf jedoch hat er grüblerisch-verzweifelt in die Hand gestützt. Melancholie wird im 17. und 18. Jahrhundert geradezu ein Merkmal großer Denker und Künstler, bisweilen zum "Leiden an der Welt" verklärt. Und das bleibt auch noch so, als sie im Zeitalter der Aufklärung mehr und mehr wissenschaftlich erklärt und als manifeste Erkrankung – zunächst des Nervensystems – angesehen wird.

    Im 19. Jahrhundert schließlich verstehen Sigmund Freud und die junge Psychiatrie und Psychologie unter Melancholie nur noch eine "tief-schmerzliche Verstimmung" der Seele, die behandelt werden muss und kann. Freud unterscheidet jetzt auch Trauer und Melancholie.

    Im 20. Jahrhundert schließlich wird aus der "Schwarzgalligkeit" die "Depression" als eine eng definierte psychische Krankheit, erklärt Prof. Andreas Heinz, Direktor der Psychiatrischen Klinik der Berliner Charité:

    "Zur Definition einer psychischen Krankheit gehört, dass sie erstens wesentliche Funktionen – und wenn man fragt, was ist wesentlich beim Selenleben, dann sind das überlebensnotwendige Funktionen, beeinträchtigt, dass sie dann entweder massiv sozial beeinträchtigt, beispielsweise, weil die Menschen nicht mehr essen, weil sie völlig verzweifelt sind, oder sich nicht mehr anziehen, oder eben subjektiv sehr viel Leid auslöst."

    Für den Medizinhistoriker Professor Volker Hess allerdings erfasst die neue Bezeichnung
    Depression nicht ganz, was früher mit Melancholie gemeint war. Und das nicht nur, weil der Krankheitsbegriff viel enger ist:

    "Den entscheidenderen Unterschied, den ich sehe, ist, dass der neue Begriff der Depression eine andere Form der Wertung vornimmt. Also er ist nicht nur eindeutig pathologisierend, er ist gleichzeitig gegendert: Also der melancholische Mensch ist in der Regel ein Mann, während der depressive Kranke in der Regel eine ältere Frau ist, er ist eindeutig sozusagen stärker mit einem sozialen Status verbunden: Der Melancholiker ist eben der Künstler, der Bürgerliche, also jemand, der sich das leisten kann, schwermütig, melancholisch auf die Welt zu gucken, die Depressive ist eine Unterschichtenpatientin."

    Heute ist völlig unbestritten: Es handelt sich um eine Krankheit
    Das charakterisiert aber – wohlgemerkt – nur den Übergang von der Melancholie zur Depression. Heute ist völlig unbestritten, dass jeder Mensch, Männer wie Frauen aller Klassen, depressiv werden können und dass es sich eben um eine Krankheit handelt. Diese neue Sicht brachte sicher für viele Betroffene mehr Verständnis und Hilfe durch moderne Behandlungsmöglichkeiten. Aber sie hat auch Nachteile, sagt ausgerechnet der Psychiater. Andreas Heinz:

    "Weil auch unser Depressionsbegriff mittlerweile so breit ist, dass fast jedes Leiden, das man haben kann, auch an dem Zustand der Gesellschaft, ein Etikett bekommen könnte. Ich halte das aber für falsch."

    Die breite Vorstellung von Depression stimmt damit zwar einerseits viel stärker mit dem überein, was früher unter Melancholie verstanden wurde – mit dem entscheidenden Unterschied aber, dass es sich eben nicht mehr um eine menschliche Konstitution handelt, sondern um einen krankhaften Zustand.

    "Uns fehlt letztendlich ein Zugang mittlerweile zum allgegenwärtigen menschlichen Leid. Und das kann nicht alles durch Psychotherapie oder Medizin aufgefangen werden, Verstimmungen, die man im Leben haben kann angesichts sozialer Ungerechtigkeit, sozialer Ausschließung, des Todes von nahen Angehörigen oder Ähnlichem – es gibt ja auch Trauer und Leidenszustände, die im menschlichen Leben einfach allgegenwärtig sind und die man nicht alle pathologisieren sollte."

    … immerhin ist in der Kunst die Melancholie noch überall sichtbar oder spürbar – und nicht in ihrer engen medizinischen Bedeutung, sondern als allgemein-menschliche Empfindung von Schwermut, Verlorenheit oder Weltschmerz: in der "Pietà" von Michelangelo zum Beispiel, in Bildern von Caspar-David Friedrich oder in unzähligen Gedichten, Symphonien und Liedern ...