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Radiolexikon: Fremdeln

Werden kleine Kinder angelächelt, so lächeln sie zurück. Manchmal bekommt das Kind Angst, klammert sich an die Mutter und fängt an zu weinen. Das Kind fremdelt.

Von Andrea Westhoff | 04.09.2012
    Das wohl berühmteste Babylachen der deutschen Schlagergeschichte. Aber das gibt es nicht nur im "Babysitter-Blues": Schaut man die Kleinen freundlich an, lächeln sie oder quietschen vor Vergnügen. Aber manchmal, von einem Moment zum anderen, ist Schluss mit lustig: Das Kind starrt angstvoll oder wendet den Kopf ab, macht sich steif oder klammert sich an die Mutter und fängt meistens auch noch an zu weinen, kurz: Es "fremdelt". Ein Phänomen, das in einschlägigen Internetforen häufig angesprochen wird:

    "Unsere neunmonatige Tochter ist beim Besuch der Großeltern vor zwei Tagen nur bei ihrem Anblick schon in herzzerreißendes Schluchzen ausgebrochen. Sie war kaum zu beruhigen. Oma und Opa waren richtig erschrocken. Ist ganz schön anstrengend, wie lange dauert das denn?"

    "Leo macht das auch, ist aber erst sechs Monate alt. Ich dachte, das fängt erst später an?"

    "Meine Kleine ist jetzt 15 Monate alt und hat bisher noch gar nicht gefremdelt. Ich hab mal gehört, dass das nicht gut sein soll?"

    "Das Fremdeln tritt auf in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres, also meistens um den achten oder neunten Monat herum, und es zeigt sich darin, dass das Kind in dem Alter eben ganz bestimmte Fähigkeiten entwickelt hat, die vorher noch nicht so vorhanden waren","

    sagt die Professorin für Entwicklungspsychologie Birgit Elsner von der Universität Potsdam.

    ""Sie erinnern sich bereits gut daran, wie häufig sie eine Person gesehen haben, also das Gedächtnis entwickelt sich, und die Unterscheidungsfähigkeit entwickelt sich zwischen den bekannten und den unbekannten Personen, in ihrem Umfeld."

    Aber warum macht das ängstlich?

    "Dieses Unbehagen wird wahrscheinlich unter anderem dadurch ausgelöst, dass das Kind einerseits in der Lage ist zu erkennen, da ist etwas anders, als ich es gewohnt bin, eine fremde Person, aber das Kind hat in diesem Alter noch nicht die Möglichkeit frei zu wählen, wie es sich verhalten kann. Und aus diesem Grund nimmt man eben an, dass dann diese Angstreaktion auftritt, einfach auch als Fluchtreaktion des Kindes, sich aus dieser Situation zu entziehen."

    Doch es bleibt nicht bei der Angst vor dem Unbekannten. Gerade gegen Ende des ersten Lebensjahres hat das Fremdeln eine weitere wichtige Funktion, wenn ein Kind zu krabbeln und zu laufen beginnt, der Aktionsradius größer wird:

    "Es entfernt sich von der Bezugsperson und erkundet halt, was im Raum so gegeben ist, aber wenn das Kind sich unsicher fühlt und ängstlich wird, dann sucht es wieder die Nähe zur Bezugsperson und es entwickelt sich eben auch das Gefühl des Kindes dafür, welche Personen ihnen Sicherheit geben."

    Durch das Fremdeln wird also die so wichtige Bindung an eine Person "trainiert" und dauerhaft gefestigt.

    "Meine Schwester meinte, Kinder, die früh und stark fremdeln, sind sensibel und werden später eher nachdenklich (hat sie gelesen). Stimmt das?"

    "Mein Sohn, dreizehn Monate, fremdelt seit vier Wochen fremdelt wie verrückt, immer 'Mama, Mama', selbst bei meinen Eltern, bei denen ich eigentlich sehr oft bin. Liegt das vielleicht daran, dass ich alleinerziehend bin?"


    Man spricht zwar auch von der Acht-Monatsangst, aber individuell tritt das Fremdeln durchaus früher oder später auf, und vor allem unterschiedlich heftig. Hier zeigen sich tatsächlich bereits die verschiedenen Temperamente von Kindern, sagt Birgit Elsner:

    "Es ist schon so im ersten Lebensjahr, dass es Kinder gibt, die generell offener gegenüber Neuem sind, und es gibt Kinder, die eher ängstlicher sind. Wobei das jetzt gar nichts Negatives heißt, das heißt einfach nur, dass die Kinder bei neuartigen Reizen nicht auf diese von selber zugehen. Und wenn Sie ein Kind haben, was ein eher ängstliches Temperament hat oder ein zurückhaltendes Temperament hat, dass dann diese Angst vor Fremden auch schon früher auftreten kann."

    Manchmal geschieht es auch nur ganz leicht, fast unbemerkt, ohne Schreien und Klammern, vielleicht einfach mal ein kritischer Blick des Babys statt eines Lächeln. Aber was ist, wenn Kinder gar nicht fremdeln? Ist das Zeichen einer Entwicklungsstörung?

    "Ob das wirklich ein Ausdruck ist, sich Sorgen zu machen, da wäre ich mir nicht ganz sicher, weil das hängt so ein bisschen davon ab, wie sich das Kind auch in unterschiedlichen Situation verhält, es ist natürlich so, wenn Kinder längerfristig, ohne Scheu immer auf fremde Personen zugehen, bei ganz ganz seltenen Fällen gibt es da tatsächlich Entwicklungsstörungen des Sozialverhaltens, aber die treten wirklich in ganz vernachlässigbaren Fällen auf, und häufig auch bei Kindern, die über die gesamte Kindheit hinweg keine feste Bezugsperson hatten."

    Ethnologische Forschungen haben gezeigt, dass das Fremdeln auch nicht davon abhängig ist, ob ein Kind viel oder wenig Kontakt mit Fremden hat:

    "Es gibt Untersuchungen mit bestimmten ländlichen Kulturen in Afrika, wo die Kinderbetreuung aufgeteilt wird, und dort scheint es so zu sein, dass die Fremdenangst nicht so stark auftritt. Dagegen in israelischen Kibbuzim, wo ja auch die Kinderbetreuung aufgeteilt wird zwischen verschiedenen Personen, da scheint die Fremdenangst trotzdem häufig aufzutreten. Also es liegt nicht unbedingt nur daran, mit wie viel Personen das Kind in Kontakt kommt, sondern es liegt auch daran, wie diese Personen gegenüber fremden Personen reagieren."

    Gerade gegen Ende des ersten Lebensjahres beginnen die Kinder ihr Verhalten stark an der Reaktion auszurichten, die sie bei ihrer Bezugsperson beobachten:

    "Die typische Situation ist ja immer mit den Verwandten, die das Kind nicht gut kennt. Die Tante, die Oma, die mal zu Besuch kommt, und da liegt es dann auch ganz viel daran, wie stark die Erwachsenen entsprechend eine negative Situation daraus machen. Eben diese ganze Peinlichkeit, dass das Kind auf einmal so reagiert, dadurch, wenn man das sehr stark signalisiert, setzt man das Kind natürlich noch mehr unter Druck."

    Was also tun, wenn das Kind fremdelt? Die Entwicklungspsychologin Birgit Elsner, rät:

    "Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem fremden Land im Urlaub, wo Sie die Gegebenheiten nicht kennen, und auf Sie kommt jemand zu und versucht Sie in den Arm zu nehmen und zu küssen. Da würden Sie genauso reagieren."

    Fremdeln ist ganz ein normales Verhalten in einer bestimmten kindlichen Entwicklungsphase, das nach einigen Monaten wieder verschwindet. Da müssen die Fremden – und das können in dieser Zeit eben auch mal die liebenden Großeltern sein – den Sicherheitsabstand des Kindes respektieren.

    "Die Eltern sollten dem Kind signalisieren: Die Situation ist sicher, der Fremde, das ist ein netter Mensch, ich mag den auch gerne, und von dem ist nichts zu befürchten, und ganz wichtig ist es, dem Kind in dieser Situation Zeit zu geben. Zeit, dem Fremden auch aus eigenem Antrieb dann entgegen zu gehen."

    Genau das passiert nämlich irgendwann auch. Manchmal hilft auch eine kleine List, indem man selbst mit einem interessanten Spielzeug hantiert. Denn in diesem Hin- und Hergerissensein eines Kindes zwischen Vertrautem und Fremdem siegen in der Regel die Neugier und die Abenteuerlust.