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Chorea Huntington

Früher konnte man die Ursache der zuckenden Tanzbewegungen der Erkrankten nicht erklären, ein Fluch als Erklärung musste herhalten. Heute kennt man die Gründe, kann aber die Krankheit noch nicht heilen. Betroffene tragen zur Erklärung oft eine Hinweiskarte "Ich bin nicht betrunken, ich bin krank."

Von Justin Westhoff | 03.09.2019
Elektronenmikroskopische Aufnahme der "verklebten" Moleküle des Huntingtin-Proteins.
Elektronenmikroskopische Aufnahme der "verklebten" Moleküle des Huntingtin-Proteins. (dpa / picture alliance / MPG-Gesellschaft_Wanker)
"Viel hundert fingen zu Straßburg an,
zu tanzen und zu springen, Frau und Mann,
St. Veits Tanz ward genannt die Plag."

 So heißt es in einer spätmittelalterlichen Stadtchronik über eine mysteriöse Krankheit. Sie wurde auf einen Fluch des Heiligen Veit zurückgeführt, der die betroffenen Menschen bis zur totalen Erschöpfung trieb. Heute trägt sie den Namen Chorea Huntington, nach dem amerikanischen Arzt George Huntington, der das Leiden erstmals 1872 wissenschaftlich beschrieb. Der Zusatz Chorea, griechisch Tanz, verweist immer noch auf die typischen unwillkürlichen, ruckartigen Arm- und Beinbewegungen der Kranken. Die ersten Symptome aber können ganz unterschiedlich sein.
"Die meisten Patienten bemerken eine leichte Bewegungsunruhe, die Hände zucken oder auch die Beine, und das wird oft verkannt als Nervosität, es gibt aber auch andere, die beginnen, gewisse Veränderungen des psychischen Befindens, Traurigkeit oder eine Zunahme der Reizbarkeit zu bemerken, und schließlich gibt es auch Personen, die einen Abfall ihrer geistigen Leistungsfähigkeit bemerken als erstes Symptom."
Ursache ist eine Mutation im Erbgut
Der Neurologe Professor Josef Priller leitet eine Spezialsprechstunde für Chorea Huntington an der Charité in Berlin. Es handelt sich um eine genetische Erkrankung.
"Die Huntington-Krankheit wird verursacht durch eine Mutation im Erbgut, wenn ein Elternteil betroffen ist, hat man ein fünfzigprozentiges Risiko, dieses defekte Gen zu erben, es ist ganz, ganz selten so, dass die Krankheit neu entsteht in einer Familie, wo es sie bisher gar nicht gegeben hat. Und deshalb ist der Gentest auch das einzig wichtige diagnostische Instrument, um mit Sicherheit sagen zu können, ob es sich um diese Krankheit handelt oder nicht."
Krankheit betrifft die ganze Familie
Das Nervenleiden macht nicht nur dem Kranken selbst schwer zu schaffen, sagt Angelika Schmid von der Deutschen Huntington-Hilfe:
"Die Krankheit betrifft die ganze Familie, die Eheleute, die Kinder, weil sie ein fünfzigprozentiges Risiko haben, das auch zu erben, dass sich die Menschen total wandeln, von einem sehr hektischen zu einem antriebslosen Menschen, oder von einem sehr liebevollen zu eben sehr aggressiven Menschen. Der Weg dorthin ist sehr unterschiedlich."
Als erstes zeigen sich meist seelische Veränderungen, dann folgen geistiger und körperlicher Verfall. Die ersten deutlichen somatischen Symptome treten am häufigsten zwischen dem 35. und dem 45. Lebensjahr auf.
"Der Krankheitsbeginn wird von vielen Faktoren, unter anderem von der Mutation bestimmt, der Größe der Mutation, das bedeutet, dass die Krankheit auch mal früher auftreten kann in nachfolgenden Generationen, und umgekehrt kann die Krankheit auch sehr viel später auftreten."
Gentest - Angst vor der Wahrheit ist groß
Wer die schweren Leiden in seiner Familie miterlebt hat, fragt sich, ob er sich untersuchen lassen soll. Die ersten Gentests, die eine sichere Diagnose erlaubten, wurden in Deutschland Mitte der 1990er Jahre gemacht. Sie können bis heute entweder von der Lebensangst befreien oder in tiefste Verzweiflung stürzen. Die Angst vor der Wahrheit ist verständlicherweise groß.
"In der Tat ist es häufig so, dass Personen erst sich dann sich vorstellen, wenn schon erste Symptome der Krankheit vorliegen, und wir dann gemeinsam beschließen, dass ein Gentest eigentlich nur noch der Bestätigung halber durchzuführen ist, aber es gibt eben auch andere Situationen, wo man aus persönlichen Motiven, weil man mit der Ungewissheit vielleicht nicht zurecht kommt, oder auch, wenn ein Kinderwunsch besteht, die Frage aufkommt, trage ich diese Mutation ja oder nein, und das sind sehr schwierige Momente, denn mit dem Ergebnis dieses Gentestes kommt dann auch die Gewissheit, dass die Person, die nachweislich auch die Mutation trägt, immer auch erkranken wird."
Jedenfalls früher kam es vor, dass sogar Fachärzte unzutreffende Auskünfte gaben, erzählt Angelika Schmid, deren Mann an Chorea Huntington leidet.
"Bei uns war es so, dass wir in den 70ern zum Arzt gegangen sind, sogar zu einem Neurologen, der hat dann gemeint, wenn es in der weiblichen Linie ist – es betraf meine Schwiegermutter und eine Tante meines Mannes – dann bleibt es dort, wir hatten also wirklich das Glück, bis zur Erkrankung meins Schwagers nicht zu wissen, dass wir auch betroffen sind."
Der Begriff "Glück" war trügerisch, die Auskunft falsch. Doch da hatte sie sich bereits für Kinder entscheiden und ihre zwei Söhne bekommen, von denen sich bisher nur einer hat testen lassen – bei ihm glücklicherweise mit negativem Ergebnis. Der zweite lehnt den Test bisher ab.
"Ich bin glücklich, sie zu haben, aber ich glaube, ich hätte keine bekommen, wenn ich es wirklich bewusst entscheiden hätte müssen."
Bis heute keine Heilung möglich
Eine ursächliche Therapie gibt es bis heute nicht. Aber das Leben der Betroffenen kann eine Zeitlang erleichtert werden, sagt Professor Priller.
"Wir können zum Beispiel die Bewegungsstörung abmildern, wir können das Risiko von Stürzen reduzieren, wie können mit Krankengymnastik Erfolge erzielen, wie können mit Logopädie das Risiko, sich zu verschlucken minimieren; wir können Depressionen erfolgreich und wir können auch die so häufige Reizbarkeit behandeln."
Ob eines Tages eine Heilung möglich wird, ist nicht völlig ausgeschlossen. Professor Priller ist auch Leiter einer Forschungsgruppe für experimentelle und molekulare Psychiatrie.
"Wir sehen jetzt eine Vielzahl von Studien, die in dieser Hinsicht vielversprechend wirken. Und die modernen krankheitsmodifizierenden Therapien, die also wirklich versuchen, nicht nur Symptome, sondern auch den Verlauf der Erkrankung günstig zu beeinflussen, die versuchen im Wesentlichen die Folgen der Mutation direkt in den Nervenzellen anzugehen."
Große Bedeutung von Selbsthilfegruppen
Angelika Schmid ist Ansprechpartnerin für Huntington-Betroffene in Berlin und Brandenburg. Selbsthilfegruppen haben gerade bei dieser Krankheit eine große Bedeutung.
"Erstens mal ist natürlich das miteinander aushalten sehr wichtig, die liebevolle Zuwendung, das Verständnis, jeder versteht, wovon der andere spricht. Und das zweite ist die Beratung: Welche Hilfen kann ich mir holen, wo ist eine Pflegeberatung, gibt es Pflegeheime, bei uns ist halt gebündelt sehr, sehr viel Wissen, nicht nur über die Krankheit, sondern auch über die Hilfsmöglichkeiten, die man sich holen kann, und solche Dinge, das finde ich sehr wichtig."
Noch ist es schwierig, ein gutes Heim zu finden.
"Man muss in diesem Pflegeheim – mein Mann ist ja auch in einem inzwischen – wirklich immer informieren, dass sie auch mal ein böses Wort und so nicht so auf die Goldwaage legen sollten, bei der Suche ist es tatsächlich ein Riesenproblem, weil viele es schon ablehnen, sie nehmen diese Kranken nicht."
Und die allgemeine Öffentlichkeit ist erst Recht zu wenig informiert. Häufig werden die Betroffenen als "besoffen" verunglimpft, wenn sie unkoordinierte Bewegungen machen. Die Huntington-Hilfe hat deswegen Kärtchen herausgegeben, auf denen steht:
"Ich bin nicht betrunken, ich bin krank."