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Radiolexikon Gesundheit: Melisse

Die Melisse ist seit dem Altertum als Arzneimittel bekannt. Bis heute wird sie eingesetzt zur Behandlung nervöser Unruhe. Klinische Studien belegen aber auch eine virusstatische Wirkung der Pflanze.

Von Andrea Westhoff | 25.10.2011
    Mit der Melisse beschäftigt sich der Professor für Phytopharmakologie, Matthias Melzig, recht häufig, denn sie wurde in der alten Pflanzenheilkunde besonders oft und vielseitig genutzt. Davon zeugen noch die zahlreichen volkstümlichen Namen: Neben "Immenblatt" oder "Honigblume" hieß die Melisse auch "Herztrost", "Mutterwurz" und "Nervenkräutel". Die Pflanze kommt ursprünglich aus Vorderasien, von wo aus sie durch Mönche nach Europa gebracht wurde. Und hier ist sie heute ein beliebtes Phytotherapeutikum, sagt auch Andreas Michalsen, Internist und Professor für Klinische Naturheilkunde an der Berliner Charité:

    "Die Melisse wird natürlich am allerhäufigsten als Melissentee angewendet für die Behandlung von nervösen Unruhezuständen, die natürlich manchmal auch mit leichter Angst verbunden sein können, oder was, glaub ich, sehr viel häufiger in der Bevölkerung ist, mit leichten Schlafstörungen, das heißt, wenn die Unruhezustände vor allem abends auftreten und den Nachtschlaf stören."

    Die beruhigende Wirkung geht vor allem von den ätherischen Ölen Citronella und Citral aus, die in der Pflanze enthalten sind. Diese verursachen zudem den angenehmen Zitronenduft, den die Blätter bei Berührung verströmen, weshalb die Pflanze oft auch Zitronenmelisse genannt wird.

    "Das Öl nachgewiesenermaßen wirkt spasmolytisch an der glatten Muskulatur, insbesondere im Gastrointestinaltrakt, und es wirkt auch krampflösend auf die glatte Muskulatur in der Luftröhre, sodass die Anwendung auch bei Erkältungskrankheiten durchaus gerechtfertigt erscheint."

    Dazu kann man Melissenextrakte auch äußerlich benutzen, für Einreiben und Inhalationen oder als Badezusatz, außerdem gibt es inzwischen spezielle Salbenzubereitungen. Der berühmte "Melissengeist" zählt dagegen heute nicht mehr zu den geeigneten Anwendungsformen. Diesen stark alkoholhaltigen Extrakt stellten schon im Mittelalter die Nonnen des Karmeliterordens her, aus verschiedenen Pflanzen: Melisse vor allem, dazu Angelikawurzel, Zimt, Muskatnuss, Zitrone und Bitterstoffe. Sie verkauften ihn unter dem Namen «Eau de Carmes» oder in Deutschland bald auch als "Klosterfrau Melissengeist". Er galt als "fröhlich machend", was vor allem am Alkohol gelegen haben dürfte, und ist genau deshalb heute auch problematisch. Andreas Michalsen:

    "Das wurde schon vor vielen Jahren begonnen, das ganz klar zu kritisieren, dass alkoholische Auszüge, die dann Heilpflanzen dabei haben, dass das ein Gefahrenpotenzial hat, das würde ich auch niemandem empfehlen, solche Pflanzentherapien einzunehmen. Weil, wir wissen ja, bei diesem Einsatzgebiet – Schlafstörungen, Unruhe, Ängstlichkeit – ist ein Suchtpotenzial drin. Und das also in Kombination mit einem alkoholischen Auszug ist einfach gefährlich."

    Melisse ist auch kein ernst zu nehmendes "Herzkraut", wie in vielen naturheilkundlichen Schriften noch behauptet wird. Diese Wirkung hat man der Pflanze früher aufgrund der "Signaturenlehre" zugeschrieben, weil die Melisse-Blätter herzförmig sind, und das fällt eher in den Bereich des magischen Denkens.

    "Da gibt es natürlich Treffer und Nicht-Treffer. Hier trifft es das ein wenig, weil es offensichtlich auch durch das ätherische Öl eine gewisse anregende Wirkung hat und damit der Kreislauf ein bisschen auf Trab gebracht wird. Aber wirklich ernst zu nehmende klinische Versuche dazu, die die Inhaltsstoffe genau festmachen, was es aus der Melisse ist, die herzunterstützend wirken, da ist eigentlich nichts bekannt."

    Heute werden mehr und mehr pflanzliche Arzneimittel naturwissenschaftlich untersucht – und das ist auch gut so und ganz im Interesse der Phytopharmakologie, betont Matthias Melzig:

    "Es gibt genug Fälle, wo nix dran ist, wo man eher sagt, das ist stark giftig, ein Beispiel sind die Kreuzkräuter, die man früher bei Diabetes eingesetzt hat, die dürfen nicht mehr benutzt werden, weil da Alkaloide drin sind, die stark Leber schädigend sind und Tumore auslösen können, und auf der anderen Seite hat man eben so etwas, wie wir bei der Melisse hatten, dass das tatsächlich eine Arzneipflanze ist, die virusstatisch wirkt. Und den Vergleich zu einem synthetischen Virusstatikum überhaupt nicht zu scheuen braucht."

    Melisse enthält nämlich auch Rosmarinsäure, ein Gerbstoff, der gegen das Herpes-Simplex-Virus wirkt, das jene berühmten Fieberbläschen auf den Lippen verursacht:

    "Und da gibt es eben sehr gute klinische Studien, wissenschaftlich abgesichert, sodass es heute auch Arzneipräparate gibt aus der Melisse, die gegen Herpes-labialis-Infektionen eingesetzt werden können."

    Man findet übrigens im Internet in den letzten Jahren auch immer wieder einmal die Behauptung, Melisse helfe gegen Demenz. Dazu meint der Pharmakologe Matthias Melzig von der Freien Universität Berlin:

    "Also gegenwärtig wird alles versucht zur Untersuchung bei Demenz. Dass es direkt eine antidementive Wirkung hat, wüsste ich nicht, aber was interessant ist in dem Zusammenhang: Eines der ersten Warnzeichen für einsetzende demenzielle Erkrankungen ist der Verlust des Geruchs. Und ich könnte mir vorstellen, dass man, wenn man also dieses typische Aroma nicht mehr riecht, dass man das in dem Zusammenhang nutzen könnte, um vielleicht erste Hinweise zu bekommen, ob jemand tatsächlich beginnend demenzielle Erkrankung erleidet."

    Der Umgang mit pflanzlichen Arzneien wie aus der Melisse ist oft recht zeitaufwendig: Man muss zum Beispiel einen Tee aufbrühen oder ein Bad bereiten. So könnte man durchaus fragen, ob bei vielen Phytopharmaka die wichtigste Wirkung nicht darin besteht, dass man sich eben diese Zeit und Geduld überhaupt nimmt. Dazu Professor Andreas Michalsen vom Zentrum für Naturheilkunde am Berliner Immanuel-Krankenhaus:

    "Das ist absolut richtig. Das trifft aber, denke ich, für das gesamte Thema der Frage Heilung und Behandlung zu. Wenn wir eine schulmedizinische Tablette zu uns nehmen, kommen auch mehrere Faktoren zusammen: der weiße Kittel des Arztes, die Chefvisite, die Farbe der Tablette, das, was der Patient liest, positiv oder negativ im Beipackzettel, wir nennen das einen Setting-Effekt, und selbstverständlich bei der Zubereitung eines Melissentees: Die Selbstfürsorge, der Duftaspekt, das "Ich-tu-mir-ewas-Gutes" – für das Zustandekommen des gesamten Therapieeffekts kommen mehrere Faktoren zusammen."