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Wenn der Heißhunger zuschlägt: Binge-Eating

Nicht der Hunger, sondern die Fresslust überfällt einen beim sogenannten Binge-Eating. Anders als bei der klassischen Magersucht oder der Bulimie, beschreibt das Binge-Eating (binge = Gelage, Überkonsum) regelmäßige Essattacken - oft zum Leidwesen der Betroffenen.

Von Ulrike Burgwinkel | 07.10.2014
    Frau isst Schokolade - Großaufnahme.
    Regelrechte Fressattacken, und das in regelmäßigen Abständen: Binge-Eating (dpa / picture alliance / Klaus Rose)
    "Wie versteinert stehe ich da. Um mich herum tobt das bunte Leben und ich bin außen vor. Ich will einerseits so gern dazu gehören – auch so toll leben, aber andererseits will ich einfach nur weg. Ich bin so anders als die anderen"

    Den Text hat Lara geschrieben, als sie in der Düsseldorfer "Werkstatt Lebenshunger" ihre Krankheit erkannt hat.
    "Die Binge-Eating-Störung ist erst seit dem neuesten DSM, dem Klassifikationssystem für psychische Störungen, als eigenständige Essstörung anerkannt"
    Merle Ahrberg ist Diplompsychologin am Forschungs-und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit der Ruhr-Universität Bochum und auf Essstörungen spezialisiert.
    "Das Hauptmerkmal dieser Störung sind Essanfälle. Essanfälle, die regelmäßig auftreten. Man sagt einmal pro Woche im Schnitt in 3 Monaten. Diese Essanfälle gehen einher mit einem massiven Gefühl von Kontrollverlust, häufig mit anderen Faktoren wie großen Gefühlen von Scham, Ekel, geht mit viel Deprimiertheit und Frustiertsein einher"
    Häufig essen die Betroffenen allein und eher heimlich. Auf jeden Fall ohne Hunger und bis zu einem unangenehmen Völlegefühl. Über die Motive der Binge Eater gibt es bisher nur sehr wenig belastbare Längsschnitt-Studien.
    "Was man aber rückblickend und in Kombination mit dem Wissen aus anderen Essstörungsbereichen sagen kann, ist, dass es ganz häufig so ist, dass da massive Selbstwertprobleme vorliegen, dass es ganz oft auch in der Kindheit eine Geschichte von familiären Konflikten gibt, ganz oft leider auch eine Geschichte von Missbrauchserfahrungen, physischem Missbrauch oder auch sexuellem Missbrauch"
    Essen gegen das Anderssein
    "Durch mein Anderssein, lange Zeit nur auf das Dicksein reduziert, fühlte ich mich immer außen vor und erstarrt. Aber das Essen war immer da und unkompliziert. Im Gegensatz zum sonstigen Leben"
    Rund 40 Prozent der Menschen mit der Binge Eating Störung sind adipös, fettleibig und kennen kein geregeltes Essverhalten. Oft fehlten die Vorbilder in der Familie, elterliches Übergewicht sei ein weiterer Risikofaktor, so Ahrberg. Aber es gäbe noch einen weiteren Unterschied zu den beiden anderen Essstörungen, der Anorexie und der Bulimie.
    "Was der wichtige Unterschied ist, es finden keine regelmäßigen gegenregulatorischen Maßnahmen statt. Das heißt, nach einem Essanfall findet selten sowas statt wie Fasten, exzessiver Sport oder sich erbrechen: das findet nicht statt."
    Auch diverse Diäten werden zwar angefangen, aber ebenso schnell wieder abgesetzt. Die Häufigkeit des Auftretens der anderen beiden Essstörungen bei jungen Frauen lässt sich bei Binge Eatern nicht feststellen. Das Geschlechterverhältnis ist fast ausgeglichen. Außerdem liegt das "Einstiegsalter" später, eher bei 20-30 Jahren.
    "Und dann gibt es einen zweiten Erkrankungsgipfel, der so zwischen Mitte 40 und Mitte 50 liegt. Wenn im weiblichen Körper noch einmal relativ viel passiert mit den Wechseljahren, kann das sein, dass sich ganz viel verändert, das Bild, das ich von meinem Körper habe, sich verändert, dass ich den auf einmal gar nicht mehr ertragen kann. Das sind auch oft Zeiten, wo Leute wieder zurück in den Beruf gehen, vielleicht aber merken, dass sich die Anforderungen verändert haben und dadurch mehr Stress und mehr Konflikte auftreten."
    Die Therapie ist insgesamt ähnlich gestaltet wie bei Bulimikern; denn auch diese Patienten wollen ihr Gewicht reduzieren und sie möchten des Weiteren die Essanfälle besiegen.
    "Dazu gehört, dass man Informationen gibt zu einem normalen Essverhalten, dass man versucht, den Patienten beizubringen, wie wichtig es ist, regelmäßig zu essen. 3 Hauptmahlzeiten, 2 Zwischenmahlzeiten am Tag und das einzuhalten, damit es nicht zu einem Teufelskreis kommt zwischen: ich versuche, mich zurückzuhalten und sehr restriktiv zu essen und möglichst wenig und dann aber auf einmal eine Heißhungerattacke habe."
    Lebensreise statt Essattacke
    Gemeinsam gilt es aber, tiefer zu graben im Gespräch zwischen Therapeut und Patient: Nach der Funktion des Essens zu fragen, nach dem Stellenwert und nach dem Vorkommen.

    "Dienen die der Spannungsregulation, treten die vor allem auf, wenn ich Konflikte mit meinem Partner habe, treten die vor allem auf, wenn ich mit meiner Familie, meinem Job mehr gestresst bin. Ganz häufig eben führen die dazu, dass schlechte Gefühle quasi "weggedrückt" werden. Ich esse und fühle mich kurzfristig besser. Das führt aber dazu, dass es insgesamt keine richtig adäquaten Konflikt – und Problemlösungsstrategien gibt."
    Sind solche erarbeitet, dann treten die süßen Trostpflästerchen als "Ersatz-Droge" nach und nach in den Hintergrund. Menschen mit Binge Eating-Störung zeigen zwar keine körperliche Abhängigkeit wie zum Beispiel Alkoholiker, aber die psychischen und emotionalen Mechanismen ähneln sich deutlich. Merle Ahrberg spricht hier von "suchtähnlichem" Verhalten. Und sie gibt ganz praktische Hinweise – wie ein alkoholkranker Mensch zum Beispiel tunlichst nicht an seinem Stammkiosk vorbei gehen sollte, um der Verführung aus dem Weg zu gehen – sollten Esssgestörte beispielsweise nur mit Einkaufszettel einkaufen gehen, und zwar nachdem sie gegessen haben. Das sind zwar nur kleine Tricks zur Selbstüberlistung, aber sie sind dennoch zu Beginn einer Therapie äußerst wirkungsvoll.
    "Ich hatte mal eine Patientin, die hat sich Schokoladen eingekauft, aber eben nur diese einzeln abgepackt sind, damit sie nicht die großen Tafeln hatte und die dann zusätzlich im Keller gelagert, so dass der Schritt, sich so eine Schokolade zu holen, sehr sehr groß war und mit viel Aufwand verbunden. Und damit hat sie es gut geschafft, das in den Griff zu kriegen."
    "Heute weiß ich, dass ich nicht primär anders bin. Sondern primär "Ich". Und ich bin eben manchmal anders. Das ist nicht immer leicht. Durch professionelle Hilfe, Selbsthilfegruppe und die Unterstützung von Menschen, die mir wichtig und wertvoll sind, lernte und lerne ich mich so zu akzeptieren wie ich bin und so zu leben, dass ich auf meine Lebensreise gehen kann."