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Radiolexikon Nähen

Das Nähen ist ein wesentlicher Teil der Chirurgie: Erst durch Nadel und Faden werden die meisten Wunden wieder geschlossen, die vorher durch Operationen oder Verletzungen entstanden sind. Obwohl das Vernähen oft wie Routine am Ende von langen Operationen wirkt, ist es keine Nebensache. Die Qualität der Naht entscheidet mit darüber, wie gut die Wunde heilt.

Von William Vorsatz | 22.04.2008
    Zwei Stunden hat die Operation im Sankt Gertauden Krankenhaus in Berlin gedauert. Nun ist es fast geschafft. Professor Oliver Kaschke hat einen Tumor an der großen Ohrspeicheldrüse entfernt. Die Vollnarkose wirkt noch, der Patient ist bewusstlos. Die Wunde blutet nicht. So kann der 25 Zentimeter lange, klaffende Schnitt vom Ohr bis zum unteren Hals vernäht werden.

    "Man erkennt unterschiedliche Schichten der Haut. Es gibt eine muskuläre Unterschicht. Diese Schicht muss einzeln adaptiert werden, die eigentliche Hautdeckschicht muss ebenfalls einzeln miteinander verbunden werden. Für die Verbindung der Unterhautschicht benutzen wir selbst auflösende, so genannte resorbierbare Fäden, und für die Hautdeckschicht nehmen wir synthetisches Nahtmaterial, was für eine Woche verbleibt, was sehr dünn ist, damit keine störenden Narben entstehen."

    Weil jetzt das entnommene Stück Gewebe fehlt, muss der Chirurg besonders darauf achten, den Rest wieder in der richtigen Position miteinander zu vernähen. Deshalb hat er das Gewebe vorher markiert.

    "Wir suchen jetzt die Markierungsstellen auf, die wir vor dem Hautschnitt angelegt haben, damit wir genau die Stellen finden, wo die Haut durchtrennt wurde, und wir setzten also jetzt in das Unterhautgewebe einen Knoten, der versenkt wird."

    Dazu nimmt Kaschke eine etwa zwei Zentimeter lange, gebogene Nadel, die am Ende unmerklich in den Faden übergeht. Routiniert durchsticht er die Ränder in der Tiefe des durchschnittenen Gewebes. Der Faden ist relativ lang. Nachdem der Chirurg eine Stelle vernäht hat, verknotet er den Faden doppelt und schneidet ihn kurz über dem Knoten ab. Es gibt verschiedenen Knotenarten. Unter den Chirurgen haben sich vier durchgesetzt, die besonders häufig benutzt werden. Jeder Chirurg favorisiert je nach Operation andere. Als nächstes setzt Professor Kaschke dicht daneben den nächsten Stich, um mit der Nadel und dem übrigen Faden an dieser Stelle erneut zu nähen und zu knoten. Der Faden wird immer wieder abgeschnitten, weil eine durchgehende Naht zu Abschnürungen führen könnte.

    "Der Faden wird sich nach einem Zeitraum von etwa drei bis sechs Wochen von allein auflösen, in dieser Zeit ist aber die Naht so fest geworden, dass nicht damit gerechnet werden muss, dass diese von allein wieder aufgeht. "

    Selbstauflösende Fäden waren ein Fortschritt in der Chirurgie. Dadurch müssen diese Fäden später nicht mehr gezogen werden.

    Das chirurgische Nähen hat eine lange Geschichte. Die älteste erhaltene Naht findet sich am Bauch einer 3000 Jahre alten ägyptischen Mumie. Im Altertum haben die Mediziner vor allem mit Pflanzenfasern, menschlichen Haaren, Tiersehnen und Wollfäden genäht. Sie verklebten die Wunden aber auch mit Harz. Und die Ägypter klammerten sie. Professor Hartwig Bauer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in Berlin:

    " Am spektakulärsten vielleicht die so genannte Ameisennaht. Die haben zur Vereinigung der Wundlefzen, also der Wundränder, große Armeisen benutzt, haben die Wundränder aneinander genäht, die Armeisen zubeißen lassen, und dann, klingt etwas brutal, aber praktisch den Körper abgedreht, und der Kopf mit den geschlossenen Zangen ist dann geblieben, und das war wie, wir würden heute modern sahen, wie so kleine Clips, die entlang der zu vereinigenden Wundränder gesetzt wurden, und die haben damit die Wunde geschlossen. "

    Ameisenklammern haben die Ägypter vor allem bei oberflächlichen Wunden verwendet. Tiefere Verletzungen waren wegen möglicher Infektionen lange Zeit problematisch. Bis in die Neuzeit fehlte den Ärzten das Verständnis für bakterielle Infektionen. Sie versuchten sich mit Tricks zu behelfen. So haben sie die Fäden früher gleichzeitig auch als Dochte benutzt. Das saugfähige Material leitete den Eiter aus, der sich in der Wunde oftmals durch Infektionen entstanden war. Erst vor 100 Jahren hat sich der sterile Faden in der Chirurgie durchgesetzt. Die Infektionsraten sind dadurch drastisch gesunken. Nun konnte sich das Nähen in allen chirurgischen Bereichen durchsetzen und ist heute aus der modernen Chirurgie nicht mehr wegzudenken.

    "Wir haben ja ganz unterschiedliche Gewebe zu vereinigen. Haut- oder Weichgewebe, wie haben Eingeweide zu nähen, Hohlorgane, den Magen-Darmtrakt oder auch Gallengänge, oder auch eine Leber oder eine Milz, also diese weichen Organe. Wenn Sie Nerven nähen, brauchen Sie ganz feine Nähte, wenn Sie Sehnen nähen, brauchen Sie Nähte, die auch relativ früh Zugspannungen aushalten, Sie können am Herzen nähen, Sie können an der Lunge nähen, Sie können am Knochen nähen, mit bestimmten Drahtnähten, bis hin zu den mikroskopisch feinsten Nähten, wenn winzigste Blutgefäße wieder angeschlossen werden müssen bei der Wiedereinpflanzung von abgetrennten Extremitätenteilen oder derartiges. "

    So verschieden wie die Gewebe sind auch die Nähte. Und die Fadenstärke schwankt. Vom einem Drittel des Durchmessers eines menschlichen Haares bis hin zu mehr als einem Millimeter Stärke. Je nachdem, wie viel Belastung die Naht auszuhalten hat.

    Nach zehn Minuten hat Professor Oliver Kaschke seinem Patienten im Sankt Getrauden Krankenhaus die untere Gewebeschicht vollständig vernäht.

    " Und der nächste Schritt wäre, dass wir jetzt ein so genanntes monofiles Nahtmaterial zur Hand nehmen, das ist ein Nahtmaterial, was völlig glatt ist, nur aus einer einzelnen, also nicht geflochtenen Struktur besteht, ziemlich fest ist, aber wiederum sehr flexibel, und die Fadenstärke, das ist etwa 0,25 mm Durchmesser. "

    Der Faden sieht aus wie Angelsehne. Weil er so glatt ist, sägt er sich nicht in das Gewebe, wie es bei einem geflochtenen Faden passieren könnte. Damit vernäht der Chirurg jetzt das Hautgewebe. Dieser Faden löst sich nicht auf. Er wird nach sechs Tagen gezogen. Das geht schneller, an den Einsichstellen veringert sich so die Gefahr von Infektionen. Zunächst aber müssen die Wundränder völlig spannungsfrei sein, das heißt, der Faden darf die Hautränder nicht zurecht ziehen. Der Chirurg muss sie vorher in die richtige Lage gebracht haben. Für einige Hautabschnitte gibt es dann noch eine spezielle Art, zu nähen. Dabei dringen Nadel und Faden nicht bis an die Hautoberfläche:

    "An diesem Hautabschnitt, der unmittelbar vor dem Ohrbereich sitzt, wo also die Ästhetik besonders wichtig ist, setzen wir diesen Intrakutan-Faden. Und jetzt wird der Faden in den seitlichen Wundrand eingeführt, und nur durch den seitlichen Wundrand entsprechend weiter gezogen. "

    Die Naht ist kaum zu erkennen. Etwas tiefer, am Hals, würde die Intrakutan-Naht nicht mehr halten. Weil durch die Halsbewegungen der Zug auf die Nähte zu stark wäre.

    Nach weiteren zehn Minuten ist auch die obere Hautschicht wieder komplett verschlossen. Die Operation endet ohne Zwischenfälle. Professor Oliver Kaschke deckt die Wunde jetzt noch mit sterilen Pflastern und Verbänden ab. In einer Woche wird es für den Patienten noch einmal ein bisschen ziepen. Dann schneidet der Arzt die Fäden unmittelbar unter den Knoten auf und zieht die Enden mit der Pinzette aus der Haut.